Dieser Stab wird nicht gebrochen!

Medienschau Die Auffassung, was Unschuld sei, befindet sich auf dem Weg ins Mittelalter. Die Causa Edathy am Fallbeispiel Tanjev Schultz, SZ und Antje Schmidt, NDR

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Vor fast auf den Tag genau einem Jahr habe ich zur Berichterstattung bezüglich des NSU-Prozesses ein paar Anmerkungen geschrieben: -> „Heute schon exorziert?“ Sie betrafen vordergründig die Art und Weise, wie die Hauptangeklagte Zschäpe zu diesem Zeitpunkt medial dargestellt wurde und wie hierüber, und das ist das Wesentliche, der Vorverurteilung Vorschub geleistet wird. Damals ging es um Dämonen.

Mittlerweile hat sich die Aufregung um den Prozess gelegt. Die Süddeutsche Zeitung etwa ist bereits in die Deutungsphase getreten. Mit der Arbeit von Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz und Rainer Stadler hat die SZ das bisherige Verfahren multimedial produziert („Der NSU-Prozess. Das Protokoll des ersten Jahres“).

Aber was soll man davon halten, wenn derselbe Tanjev Schultz die Vorverurteilung diesmal an einer anderen Person regelrecht exekutiert? Und damit zu erkennen gibt, dass das und nicht die Unschuldsvermutung als oberstes Prinzip waltet?

Die Analyse eines Bückstücks

In „Bestraft schon vor der Strafe“ (bei SZ online seit 03.05., 18:32) gibt der Teaser seiner Funktion gemäß den Tenor vor:

Nach neuen Indizien geht es nun um eindeutige Kinderpornografie. Der Politiker muss mit einer Strafe rechnen.“

Hier kommen Sprachform und Inhalt zu einem derart grotesken (Vor)Urteil, dass sich die Analyse als negatives Fallbeispiel lohnt:

- Indizien sind keine Beweise, sie können also nie eindeutig sein. Sie stützen für sich genommen auch kein Urteil oder eine Beurteilung. Selbst im sog. Indizienprozess fußt der Spruch auf mehr als der Summe der einzelnen Indizien(stücke), nämlich darauf ob auch das Gesamtbild aller Indizien wiederum in sich schlüssig den Tatvorwurf trägt;

- Mit „eindeutige Kinderpornografie“ ist die Diktion der Staatsanwaltschaft Hannover und damit der Anklagebehörde übernommen: Nämlich dass es so etwas wie „Grauzonen“ gäbe, die nun „indiziell“ überwunden seien;

- Der Satz ist im Indikativ geschrieben, also als Gewissheit. Das kann ein Journalist, der nicht selbst in Augenschein genommen hat, nicht behaupten. Wenn er in Augenschein genommen hat, wäre es seine Pflicht, das mitzuteilen und damit die Kriterien, woran er sein eigenes, im Übrigen laienhaftes Urteil festmacht; Tanjev Schultz gibt sie hier als das undistanzierte Sprachrohr eines Landeskriminalamtes (LKA) her;

- Im zweiten Satz wird die Strafe als Imperativ ausgedrückt. Es drückt einerseits bereits das Urteil selbst aus wie andererseits die Erwartungshaltung, dass es nur so, nämlich mit einer Strafe kommen muss; Das ist die Definition von „Vorverurteilung“. Man kann es auch als vorgreifende, versuchte Nötigung desjenigen Gerichts nennen, das einmal mit der Causa befasst sein wird;

- Auch der Titel selbst „Betraft vor der Strafe“ legt nahe, dass in jedem Fall eine Verurteilung zu erwarten ist; das ist angesichts des Umstands, dass nicht nur keine Hauptverhandlung eröffnet ist, sondern nicht einmal ein solcher Antrag von der Staatsanwaltschaft Hannover bislang beantragt ist, nur noch als grotesk zu bezeichnen;

- Die Erwartungshaltung wird vielmehr ausschließlich an den vorgeblichen Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden, genauer: des LKA Niedersachsen angeknüpft. Selbst die Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde hat sich bislang nicht zum Inhalt der Ermittlungen geäußert. Dass polizeiliche Erkenntnisse imperativ eine Bestrafung nach sich ziehen müssten, ist zwar im deutschen Strafrecht wie Journalismus nicht völlig neu. Im Rechtsstaat seit 1949 wäre es aber ein ziemliches Novum.

- Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) verhält sich um keinen Deut besser. Die ärgsten Fehler bei der Verdachtsberichterstattung im Textteil vermeidend, wird im Radioteil („Hallo Niedersachsen“, Autorin Antje Schmidt) genauso schamlos alles im Indikativ und das vom LKA gelieferte Material als Gewissheit vermittelt, unter anderem: „Es geht erstmals um strafbares Material“, das „über bisheriges Material hinausgeht“. Natürlich kinderpornographisch, wie die Überschrift betont. Auch hier kann nicht davon ausgegangen werden, dass Frau Schmidt das Material selbst geprüft und klassifiziert haben könnte.

Um es einfach auszudrücken: In wenigen Sätzen ist praktisch alles kondensiert, was weder zur juristischen Unschuldsvermutung passt noch den ethischen Kriterien der Verdachtsberichterstattung entspricht. Das einzige, was mir im Augenblick zur Entlastung des Autors Schultz einfällt ist, dass der Teaser möglicherweise von einem SEO-beflissenen online-Werker hergestellt wurde. Das ändert sowohl am Charakter des Stücks als auch an der Autorenschaft freilich nichts.

Anders als die Causa Zschäpe, wo Stimmungsbilder die Angeklagte erst auf die (erwünschte Art der) Verurteilung zurichten, lassen die jetzigen Autoren jede Scham fallen, weil für sie „die Ächtung“ ohnehin bereits eingetreten ist; Schultz schreibt es sogar ausdrücklich. Daran ist anzusetzen: Der Weg, der zu dieser Ächtung geführt hat, ist genau das Zusammenspiel von Teilen der Justiz mit interessiertem Journalismus, wofür Schultz und Schmidt jetzt lediglich die Dramaturgie offenbaren.

Die moralische Aufladung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen

Dass „Kinderpornografie“ jenseits der rechtlichen Beurteilung Abscheu hervorruft, ist eine Tatsache. Vor allem bei Lektüre von Ortsnachrichten ist hinreichend bekannt, ob und dass regelrechte Menschenjagden veranstaltet wurden und werden, wenn es um Kinder geht. „Netz gegen Nazis“ hat bereits im März 2009 in „Warum engagieren sich Neonazis gegen ‘Kinderschänder‘?“ die Gemengelage untersucht und unter anderem damit beschrieben: „Die Freude am Pathos und an der Schilderung der Gewalttaten, sowohl an den Kindern, als auch beim Ausmalen, was die Neonazis dann mit den Tätern tun wollten.“ Derlei wurde und wird auch nur auf Gerüchte hin veranstaltet.

Ähnliches Pathos ist 5 Jahre später in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Bundesrichter Thomas Fischer hat in seinem Artikel „Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy“ nicht nur rechtsstaatlich festgestellt: „Der vernichtenden Gewalt des Redlichen kann nur entkommen, wer sie freudig begrüßt und aktiv unterstützt.“

Sondern er beschreibt die völlig irreale, gekünstelte Empathie mit unverkennbarem Sarkasmus: „Mögen sie [die Kinder] ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde!“ So hat die reale sexuelle Gewalt, die im deutschen Strafrecht mit „Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung“ ihr Schutzgut gefunden hatte, ihre Umformung in ein moralisches Urteil erfahren. Es wird begierig aufgesogen von allen, die das alles ohnehin als irgendwie „schmutzig“ erachten und angewidert im Abwenden den Daumen senken. Von denen, die billig, aber nicht recht denken.

Dabei ist die Funktion des Strafrechts nicht die des Moralrechts, wie es viele gerne noch oder wieder hätten. Das ist die Mahnung Fischers, aber auch die von Heribert Prantl: „Der Vorwurf ist so klebrig, dass ihn der Beschuldigte (auch derjenige, der gar nicht hätte beschuldigt werden dürfen) nicht mehr loswird.“

Das ist der Beginn und das ist die Fortsetzung der Geschichte: Die jetzt präsentierten Funde sind das Ergebnis von Durchsuchungen, die so nicht hätten stattfinden dürfen. Man kann ganz im Gegenteil sagen – der Rechtfertigungsdruck, ins Blaue hinein ermittelt und nichts gefunden zu haben, was belastbar war, lässt es unter der Perspektive der Ermittler als wünschenswert erscheinen, doch endlich fündig zu werden. Aber das ist natürlich nur Spekulation.

Wo sich die jeweiligen Spezialisten ihrer Berufe zwischen Recht und Journalismus wie Fischer und Prantl in der Beurteilung treffen, wäre aber erhöhte Aufmerksamkeit und kritische Eigenprüfung erforderlich. Denn einer Matrjoschka gleich wird hinter dem Offenbaren noch eine weitere Komponente sichtbar. Von der Tendenz zur Duchstecherei, die im Fall von Ex-Minister Hans-Peter Friedrich zum Verdacht des Geheimnisverrats geführt hat und die Rolle von BKA-Chef Jörg Ziercke nach wie ungeklärt lässt, wird auch jetzt ein wichtiger Aspekt verdeckt.

Vorratsdatenspeicherung: Die Telefonzentrale des Deutschen Bundestags

Die Überprüfung der Verbindungsdaten im Deutschen Bundestag betrifft naturgemäß nicht nur private oder angeblich kriminelle Kontakte, sondern im Fall Edathy wie in dem eines jeden anderen Abgeordneten dessen politische. Die Verbindungsdaten sind, wie bei jedem Abgeordneten, aber auch bei jedem Bürger, dessen ganz persönliches Rolodex, sein Adressheft, sein persönliches Profil. Sie ist im Fall des früheren Abgeordneten Edathy nicht nur das Who’s who des Ausschusses des Bundestags zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), sondern eine Quelle, wann welche Kontakte stattgefunden haben. Sie können so mit der protokollierten Tätigkeit des Ausschusses in Verbindung gebracht werden und dessen „Hintergründe“ ausleuchten.

Dass dieser Ausschnitt die im Ausschuss hart angefassten Behörden interessiert, ist seit Februar bekannt. Ab 26.02. vermeldete die Presse, Ermittler des LKA hätten in Edathys Wohnung „Geheimunterlagen“ zum NSU-Ausschuss gefunden. Als offen muss bis heute die Frage behandelt werden, ob es sich analog zur „Grauzonentheorie“ der Staatsanwaltschaft Hannover tatsächlich um Geheimunterlagen oder bestenfalls schlichte Verschlusssachen gehandelt hat, wie Edathy selbst es bezeichnet.

Das Gesamtbild ist freilich beunruhigender. Denn da sind nicht nur zwei Kriminalfälle, die genau jene Taten abbilden, für die weiterhin zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung geworben wird - trotz zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union. Und trotz des Umstands, dass eine Studie und ein paar Jahre später ein Gutachten des Max-Planck-Institutes die durch die Rechtsprechung angeblich gerissene „Sicherheitslücke“ zur reinen Stammtischparole degradiert haben.

„Terrorismus“ und „Kindesmissbrauch“ sind weiterhin jene 0,2 Prozent aller Straftaten, für die generell jeder Bürger der Republik oder der Europäischen Union als anlassloser Verdächtiger zu gelten hat. Sie werden auch und gerade wegen der moralischen Aufladung und der damit einhergehenden Empörung weiterhin als trojanisches Pferd gegen die Rechtsstaatlichkeit geführt.

Erschreckend aber ist, dass die Verbindungsdaten sogar der Abgeordneten des Bundestages herhalten dürfen, wenn ein strafrechtlicher Verdacht nicht einmal konkretisiert, sondern mit den Worten einer Anklagebehörde „im Graubereich“ angesiedelt ist: Ein eleganterer Ausdruck für "Gerücht". Der nicht belegte, ja nicht einmal der konkrete Anfangsverdacht reicht dazu aus, die Mitglieder des Parlaments auszuforschen, das ist die bisherige Lektion dieses Falles. Daran ändert sich nichts, dass Edathy selbst durch Rücktritt auf seine Immunität verzichtet hat – die gegenwärtig geltenden Regeln zur Immunitätsaufhebung sind im weitesten Sinne als Blankoscheck gegenüber den Behörden ausgestellt, die die Politik bislang selbst als neutral bezeichnet hat. Edathy hat als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses genau an diesem Bild gekratzt.

Die Prophezeiung, die sich selbst erfüllt

Der justizielle Skandal jener „Pressekonferenz“ der Staatsanwaltschaft Hannover vom Februar setzt sich fort. Wenn Udo Vetter (law-blog) dem Rechtsstaatsprinzip folgend Recht hatte, dass statt der Suada fünf Sätze genügt hätten – die Medien haben ausgiebig und meist unkritisch darüber berichtet und die Inhalte original transportiert. Auch die jetzt interessierenden beiden Medien haben sich dem nun nicht entschlagen. Deren Einzugsbereich deckt geschickt wie praktisch das gesamte Bundesgebiet, die Durchstechereien des/aus dem LKA und/oder der Staatsanwaltschaft finden überall ihre dankbaren Abnehmer. Auf helfen dabei die beiden Medien, die Dank Eigenwerbung als „recherchierend“ gelten und damit in weiten Kreisen erhöhte Glaubwürdigkeit genießen. Sie erstreckt sich von den Tatsachen nunmehr auf die Wertung.

Vielleicht spekulieren die Autoren damit, dass „ein Edathy“ anderes zu tun hat, als sich wegen dieser beiläufigen, kleinen Elaborate an den Presserat zu wenden. Vielleicht ist es diesen Medien auch nur unheimlich geworden, weiterhin die Unschuldsvermutung zu reklamieren in einem Fall, der wie bei einer selbsterfüllenden Prophezeiung häppchenweise eine „feststehende Schuld“ nicht er- oder beweist, sondern bestätigt. Das ist vom Ende her gedacht, vom vorgestellten Ergebnis her bei einer Causa, die noch nicht einmal den Gerichtssaal betreten hat.

Das Ordalium im Mittelalter aber war nicht viel anders. Der Delinquent, der fest gebunden in ein Gewässer geworfen wurde, war vor dem Herrn (und den hochmögenden richtenden Herrschaften) möglicherweise unschuldig, wenn er unterging. Blieb er schwimmen, begannen die Qualen des Inquisitionsprozesses. Zynisch gefragt: Wollen wir nicht alle, dass „der Edathy“ endlich verschwindet? Man darf sich aber genauso fragen, wer in der Causa Edathy Herrin oder Herr des Verfahrens ist.

Thomas Fischer hat sich als einer der höchsten Vertreter der Rechtspflege bei dem Menschen Sebastian Edathy öffentlich entschuldigt. Wer sollte das für die Medien tun? Wer tritt vor und schreibt: Dieser Stab wird nicht gebrochen! e2m

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen bei "die Ausrufer"

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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