Ein Missverständnis, zum Vorbeugen, über Hunger und Strafe

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Der Blog „Hungern und bestrafen: Szenen aus dem neuen Italien“ hatte einen Vorlauf.

Da ist zum einen der ganz reale Hintergrund, dass im Schulsprengel von Adro, einer Gemeinde in der Provinz von Brescia, im März dieses Jahres mehrere Wochen lang Kindern in den Schulen das Mittagessen verweigert wurde. In den Grund- und Mittelschulklassen gilt in Italien überwiegend das Ganztagsschulsystem, so dass die Kinder keine Gelegenheit haben, sich zuhause zu verköstigen. So vor allem an staatlichen Schulen.

Natürlich ist für diese Leistung, also für die Verköstigung der Kinder, Geld zu zahlen. Natürlich, weil das in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität in Italien als normale, privat zu erbringende Gegenleistung für etwas galt, das mit dem unmittelbaren Lernen nichts zu tun hat. Nun ist es aber so, dass in Zeiten wirtschaftlicher Nichtprosperität, mit anderen Worten: Offensichtlicher und verdeckter Massenarbeitslosigkeit Geld fehlt, vor allem denen, die es in Europa generell nicht leicht haben, die Immigranten. Einige von diesen wagten es, nicht oder nicht pünktlich das Essengeld bei der Schule ihrer Kinder abzuliefern. Wofür diese bestraft wurden, trockenen Mundes. Ich fasse zusammen: Kinder von Einwanderern, die kein Geld hatten, um Kostgeld zu zahlen, weil sie als erste im reichen Speckgürtel Italiens bei Brescia arbeitslos geworden waren, wurden für die Tatsache bestraft, dass die Eltern kein Geld hatten, weil sie arbeitslos geworden waren. Und sind.

Nun könnte man aus deutscher Sicht sagen: Da haben die sozialen Systeme in Italien versagt. Dies ist richtig aus der Warte derer, die daran gewöhnt sind, dass ein Verwaltungsapparat bis in die kleinste Ermessenentscheidung hinein per Verordnung Gerechtigkeit reguliert. Wo es so etwas nicht gibt, gilt aber immer noch das Prinzip der schlichten menschlichen Solidarität. Und hier haben nicht die Schulbehörden oder der Mensabetreiber in Italien versagt, sondern es ist ein gesamtes Menschenbild ins Wanken geraten. Es hatte schon seine augenfällige Erschütterung in der Aktion „White Christmas“, ebenfalls in der Provinz Brescia, erfahren, als vor Weihnachten 2009, dem christlichen Fest der Liebe, jedes Haus nach illegalen Einwanderern durchkämmt werden sollte. Per Ordre des „Bürgermeisters“ der Gemeinde Coccaglio. Nun sollen auch die Kinder der legalen Einwanderer, also die, die aufgrund ihrer regulären Papiere überhaupt die Kinder auf Schulen schicken dürfen, dafür bestraft werden, dass die Eltern als billigste Arbeitskräfte, denn nur dafür wurden sie regularisiert, auf die Reservebank der Erwerbslosigkeit geschickt wurden.

Die Provinz Brescia gehört zur Region Lombardia und grenzt unmittelbar an die Region Veneto an, wo, wie wir wissen, die Lega Nord, nunmehr den Gouverneur und die Regionalrat beherrscht. Die Lombardei selbst wird von PdL und Lega Nord regiert. Die vor allem mit Blick auf die Einwanderer aus Afrika oder arabischen Ländern stets das Wort der „Kultur des christlichen Abendlandes“ im Munde führen. Aber das ist nur die offizielle Seite. Die ganz private ist die, die nun, diese Woche von Anno Zero, eine der wenigen kritischen Aussendungen im italienischen staatlichen Fernsehen, ausgestrahlt wurde: Wo in den Räumen eben jener Mensa habende Mütter den Nichthabenden, den Nichtsnutzen, deren Armut lauthals entgegen schleuderten, zum Vorwurf machten. Und das ist etwas, was sich nicht plötzlich entladen hat, sondern mittlerweile zum Grundklima in Italien gehört. Fokussiert in den wohlhabendsten Teilen dieses Landes.

Es ist dieses Klima, das Dario Fo und Franca Rame beschrieben haben, und das sie mit ihren Kenntnissen über die italienische Geschichte und der Gegenwart sehr genau benennen. Nicht auf die goliardische Art und Weise des absurden Theaters, das Fo zu eigen ist, sondern mit einem J’Accuse des Mannes, der als Säulenheiliger der Lombardei gilt, dem Heiligen Ambrosius. Aus der Vergangenheit bis mitten hinein in die Gegenwart. Man kann es ironisch lesen, dieser Blogger tut es nicht.

Da ist zum anderen die Schwierigkeit, einem Publikum etwas Fernes zu schildern, das es nicht mehr gewöhnt ist: Ein Verständnis für Verhältnisse in anderen Ländern, Kulturen, die Einsicht in fremdländische Entwicklungen. Es ist die Schwierigkeit, einen Elfenbeinturm zu knacken der sich nennt „nationale Befindlichkeit“. Das ist kein deutsches Phänomen. Die Berichterstattung aus dem Ausland, selbst aus der unmittelbaren Nachbarschaft, gerät zum Aufzählen von (Un-)Taten sog. Personen öffentlichen Interesses, egal ob man in Frankreich liest oder in Spanien. Kinder kommen da nur vor, wenn mit ihnen Spektakuläres geschieht. Dazu gehört das Bestrafen von Hungerleidern nicht. Oder doch?

Den authentischen Worten von Zeitzeugen Geltung zu verschaffen, war mir dieses Nichts an einer Übersetzung und dieser Blog wert. Denn der Rollback einer ganz eigenen Anschauung vollzieht sich unter unserer Nase nun schon seit Jahren: Lega Nord, Vlaamsblock, Haiderismus, Front National sind schon lange keine Parteien oder nur solche in ganz bestimmten, umzirkelten Staaten mehr, sie sind mittlerweile grenzübergreifende Mentalität. Sie klopft auch an unsere Tür. Kaum einer will‘s gewusst haben.

Dass es nicht früher gebloggt wurde, hängt mit dem Respekt gegenüber den Autoren zusammen. Sie wurden um Erlaubnis gefragt.

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Geschrieben von

ed2murrow

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ed2murrow

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