Eine drollige Art, sich dem Abgrund zu nähern (*)

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Der Nobelpreisträger analysiert die tragische Situation Italiens. Hier der Text eines Vortrages beim Festival des Investigativen Journalismus in Marsala

Von Dario Fo

1 Italien heute

Was für ein Land ist das, das heutige Italien? Wir müssten weit zurückgehen, um zu verstehen, wo wir angekommen sind und die Bedeutung der Dinge durchdringen, die sich in Jahrhunderten in Italien ereignet haben. Beginnend beim Mittelalter. Zur Geburt eines der wichtigsten Phänomene des menschlichen Gewissens, das der Kommunen. Wir haben eine kollektive Form der Justiz erfunden, die man heute noch weltweit studiert. Dann war da der Humanismus: Ein außerordentlicher Wert und mit ihm große Maler, große Wissenschaftler, große Entdecker; und die ganze Wissenschaft, die sich daraus entwickelt hat, die Erfindungen, die Poesie, das Schreiben. Die ganze Welt haben wir mit Werken überflutet. Dann war diese Zeit einer gefährlichen Stille, auch wenn das 18. ein wichtiges italienisches Jahrhundert ist. Die Zeit der Leuchten, und auch wir haben daran teilgenommen. Ab da ging es unglaublich bergab: Bis wir auch den Faschismus erreichten, bis wir zur Gründung Italiens kamen, um das Land wieder zu versenken; wir sind wieder emporgestiegen. Als der Krieg endete, wie ich sagen muss, der letzte Krieg, eine unglaubliche Atmosphäre war, des Einsatzes, der Überzeugung in der Handlung, etwas erschaffen zu wollen, es wieder zu verändern, ein Leben zu erfinden. Wir alle haben uns wie verrückt auf das Spiel gestürzt und in die Freude, diese andere Welt zu verwirklichen. Alle, wirklich alle, die Arbeiter, die Bauern, die Frauen. Wir waren das Wunder dieser Welt, weil nie jemand einen so wichtigen und großartigen Rhythmus der Wiedergeburt erfahren hatte. Dann aber die Politik, der Diebstahl, die Schlächterei, das Berauben und Zerstören, die zu Tagesordnungspunkten wurden.
Natürlich sagt die Regierung dazu nichts, akzeptiert es nicht einmal, selbst wenn sie auf frischer Tat ertappt wird (wie dieser Tage, da all die Minister mit Fußtritten verjagt gehörten), die natürlich klein redet, wenn sie sagt: „Nein, das ist nicht die letzte Schlacht, aber nein! Das ist nicht wie vor zwanzig Jahren, als sie ins Gefängnis einrückten, einer nach dem anderen: Minister, Abgeordnete etc. etc. Mani Pulite hat damit gar nichts zu tun.“ Dabei sind wir mitten drin. Nicht akzeptieren zu wollen, nicht einmal zu sehen, dass wir einen tragischen Augenblick erleben, der vielleicht schlimmer ist als der von Mani Pulite, ist gewissenlos. Gerade jetzt, da die Krise auf uns zurast. Da die Arbeiter keine Beschäftigung mehr finden. Da die Menschen sich von Tag zu Tag hangeln. Da die Schulen nicht funktionieren, der Verkehr nicht funktioniert, in diesem aufgestauten Klima, diesem Mangel an Respekt auch gegenüber dem Leben von Kindern, Alten etc. etc. Wir bewegen uns auf einen richtig schönen Abgrund zu. Jetzt nennt sich das Pessimismus. Ich bin glücklich, ein Pessimist zu sein. Weil das einer ist, ganz im Gegensatz zum sog. Optimisten, der sich die Dinge anschaut, ihnen auf den Grund geht. Er begnügt sich nicht mit der Hoffnung, mehr noch, von „Hoffnung“ will er nicht einmal reden hören, sondern von Tatsachen, die wahr sind, real, progressiv, verändernd. Fortwährend. Ich bin Pessimist, weil ich wirklich das Optimum will.

2 Eine drollige Regierung

Wir haben eine Regierung, die uns vom Ausland geneidet wird, gerade weil sie diese Freude verbreitet, diese Heiterkeit … Sie ist derart drollig, so sehr absurd und paradox, dass uns bei Besuchen im Ausland alle bitten, davon zu erzählen und man uns doch nicht glaubt. Wenn wir etwa über die Meinungsfreiheit sprechen, über die Möglichkeit für uns alle, jeden einzelnen, das italienische Fernsehen zu nutzen, vor allem über die Lügen, die naturgemäß von den Journalisten erzählt werden, zu der Situation in der wir uns befinden, und erst recht darüber, dass es eine kontinuierliche Aggression gibt, zwar maskiert von den vielen Stimmen eines Chors, aber unübersehbar, wonach es das Wichtigste für eine Veröffentlichung, oder besser: Um der Wahrheit Geltung zu verschaffen und das Publikum zu informieren, der Umstand ist, dass das Fernsehen sich letzten Endes in einer einzigen Hand befindet, die des Ministerpräsidenten dieses Landes.

3 Die Zensur der Kultur

Vor ein paar Tagen haben wir alle Männer vom Theater, alle Frauen vom Theater, also alle die Personen, die etwas bedeuten und ihren Wert haben, durchgezählt, und die heute von unserer Bühne verschwunden sind. Und zu Verschwundenen zähle ich auch mich, mit Stolz. Viel haben Franca und ich an den Diskursen zur Kultur gearbeitet, zu großen Malern, an der Geschichte des Theaters. In den vergangenen Jahren haben wir eine Reihe von Programmen realisiert, die von vielen Zuschauern gesehen wurden. Wir erreichten bis zu eine Million nach Mitternacht. Wobei schon eingerechnet war, dass wir etwas abseits stehen würden, nicht zu den besten Sendezeiten, weil wir stören, weil wir Konfusion bringen, weil gelegentlich Bemerkungen fallen, die von „einfachen Gemütern missverstanden“ werden können. Also sind wir verschwunden, wir haben keine Möglichkeit mehr, uns auszudrücken, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als unsere Aufnahmen auf eigene Rechnung zu realisieren, und auf eigenes Risiko, um sie dann durch die Zeitungen zu schleusen zusammen mit den Veröffentlichungen. Wir suchen ein anderes Spielfeld, weil das der Direktaufnahme im Fernsehen vollständig, und ich betone: vollständig, besetzt ist, vom Staat, von der Regierung; bis auf wenige Ausnahmen, die es einmal hinein geschafft haben und noch ein wenig überleben.

4 Leichen von Staats wegen

Ich weiß nicht im Ausland, aber was vor ein paar Tagen hier geschehen ist, als eine Frau in Neapel, die in einem Krankenhaus arbeitet und, weil sie seit Monaten ihr Gehalt nicht bekommt, zwei Kinder zu ernähren hat, einfach nicht mehr weiter weiß, sich entscheidet, die Menschen und vor allem die Regierung darüber zu informieren, indem sie sagt: „Ihr saugt mir mein Blut, das Geld, das ihr mir nicht gebt, saugt ihr von meinem Leben und dem meiner Kinder. Also lasse ich mir das Blut vor euren Augen absaugen. Und ich lasse es mir jeden Tag saugen, damit ihr es bemerkt, durch diese Gewalt die ich euch entgegenbringe, damit ihr euch entscheidet, mir zu geben, was ihr mir nehmt, was ihr versteckt.“ Sie ist gestorben. Eigentlich hat man sie sterben lassen. In aller Gemütsruhe. Und das Grauenvolle daran ist, dass bei der Beerdigung dieser Frau, unter der verzweifelten und empörten Menge, kein einziger der Mächtigen anwesend war, dass die Institutionen vollständig verschwunden waren. Von links, von rechts, sie gibt es nicht, sie hat es nie gegeben. Darüber wird zu schweigen sein. So wie es jener Kriegerin ergangen ist, die in Afghanistan war und mit ihrem bewaffneten Lastwagen in die Luft flog, der eigentlich hätte gepanzert sein müssen, während doch zwei Jungs starben und mit ihr noch ein weiterer schwer verletzt wurde. Das ist etwas, was schaudern lässt, diese Tatsache, dass wir Frauen haben und sie zum Sterben schicken oder sie dem Risiko aussetzen. Dass eine Frau dazu gebracht wird, Kriegerin zu sein, ist gut für ein Märchen, für die griechische Mythologie. Selbst Aristarch sog groteske Ironie aus einer solchen Situation, als Paradox. Wir haben sie, und auf was warten wir? Dass es eine Tote gibt. Wenn es dann endlich eine tote Frau geben wird in diesem Krieg, für das Vaterland, was wirklich bemerkenswert ist: Dann werden wir Tränen sehen, un-zurück-gehaltene Tränen unserer Anführer, der Minister und alle werden sie in Reihe anstehen, um den Sarg zu küssen.

5 Korruption und Macht

Die einzige Hoffnung, die wir haben, ist die Jugend. Dass sie es sind, die austauschen, was uns nicht gelungen ist, vor allem dass es ihnen besser gelingt. Und dass sie auf keinen Fall die Bedingungen und Formen akzeptieren, unter denen sie heute gezwungen sind, zu leben, weil sie sehr genau wissen, dass so, wie es jetzt geht, schon zum Massenselbstmord geführt hat. Mit einem Machtanspruch, dem nicht bewusst ist, was geschieht, der so tut, als würde er nichts sehen, obwohl wir seit Zeiten, seit einem Jahr, da es bei uns keine Krise gibt, aufrecht stehen. Dabei wissen wir ganz genau –die großen Wissenschaftler um das Finanzproblem in Europa sagen es uns-, dass das nicht das Desaster ist, das kommt erst noch. Wir könnten aufmerken. Denn da ist diese Stille und diese Benommenheit.Gelegentlich sieht man diese Arbeiter, die völlig verrückte Sachen machen, auf Türme steigen, Büros besetzen oder sogar Gefängnisse, um sich Gehör zu verschaffen. Da ist die Leere, ausgehöhlt von etwas, was noch viel schrecklicher ist, weil du erfährst dass es in dieser Welt der Leitenden, derer die die Macht in Händen halten, eine horrende Korruption gibt. Und dass die Ersten, die sich dieser Korruption bewusst sind, sie geradezu befördern, die Politiker sind, die Unternehmer. Wir entdecken, dass die Korruption an die sechzig Milliarden Euro im Jahr bewegt, eine unglaubliche Summe, die, stünde sie frei zur Verfügung, eine Menge Probleme lösen könnte, im Kulturschaffen, in den Schulen, in den Krankenhäusern. Aber man lässt sich in aller Seelenruhe auseinandernehmen, oder besser: Buchstäblich das Blut aussaugen, nicht nur jene arme Frau, sondern die gesamte Bevölkerung, in völliger menschlicher Teilnahmslosigkeit. Menschlichkeit bedeutet nichts mehr, sie fällt in sich zusammen, sie zerfließt wie das Wasser nach einem Gewitter.

6 Die Kraft und der Mut

In meinem Arbeitszimmer habe ich ein Portrait, auf dem sich die zwei Persönlichkeiten befinden, die wohl wichtigsten der späten italienischen Geschichte. Es sind Borsellino und Falcone, zwei Richter diemit ihrem Leben, ihrer Kraft und vor allem ihrem Mut dafür bezahlt haben, dass sie einen revolutionären Diskurs voran gebracht haben: Endlich die Mafia zu tilgen. Die Mafia gibt es immer noch, jeden Tag, wie man uns auch jeden Tag wiederholt, dass sie am Ende sei. Aber wir wissen, dass es einer totalen Revolution bedarf und der Beteiligung aller, ständig. Ich achte es so, dieses Bild, als einen Hinweis, eine Stimme. Es ist mir ein ständiges Signal. Immer wieder verrutscht uns die Optik, und wir denken, auch in den schwierigen Augenblicken, dass wir ein gutes Beispiel vor Augen haben, ein absolutes, in dem Schicksal dieser Männer und dass wir es vor allem verbreiten müssen, zur Kenntnis bringen, es in Erinnerung rufen, auch denen, die bei uns nur zu Besuch sind. Auch das sind viele.

Aus il Fatto Quotidiano vom 25. Mai
veröffentlicht online am 25. Mai 2010

((*) Dario Fo, 84, ist Nobelpreisträger für Literatur 1997 und einem breiten Publikum durch seine politischen Theaterstücke (u.a. Morte accidentale di un anarchico) bekannt; Franca Rame, 80, ist Schauspielerin, Dramaturgin und war Abgeordnete sowie Senatorin im italienischen Parlament. Sie sind seit 1954 miteinander verheiratet.

Aus dem Italienischen und Anmerkungen von ed2murrow, mit freundlicher Genehmigung von Il Fatto Quotidiano vom 26.05.2010; die weitere Verwertung unterliegt den Bestimmungen gem. creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.5/it/deed.de )

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