Guter Rat ist teuer

Europäische Union Das Urteil des EuGH zum sogenannten humanitären Visum und die Zukunft der Europäischen Union. Ein Kommentar

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Der Grenzzaun: Sinnbild für den Rückzug ins Nationale
Der Grenzzaun: Sinnbild für den Rückzug ins Nationale

Das Datum dürfte Victor Orbán nicht zufällig gewählt haben, um mit seinen dramatischen Tönen von der "Belagerung Ungarns durch Flüchtlinge" das brutale Asylverhinderungsgesetz aus dem Budapester Parlament zu popularisieren. Denn auch der Verkündungstermin für das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum sogenannten humanitären Visum stand schon lange fest. Unabhängig vom konkreten Ausgang des Verfahrens in Luxemburg also für den Ministerpräsidenten Anlass genug, der Welt die vorgebliche Eigenständigkeit Ungarns vor Augen und die Europäische Union in der Flüchtlingsfrage so oder so vorzuführen.

Dabei hatten im Sommer 2015 die Kurzmitteilungen des bekannten Journalisten und Fernsehmoderators Armin Wolf gereicht, die Situation komprimiert und treffend zu fassen:

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Nicht de facto, sondern de jure hätte es vergangenen Dienstag anders ausgehen können. Hoffnungen, die in die Entscheidung des EuGH gelegt worden waren, lasteten auf den Schlussanträgen des Generalanwalts Paolo Mengozzi vom 7. Februar. Die zentrale Frage lautete: Gibt es eine europarechtliche Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten, ein humanitäres Visum auszustellen, wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen das Folterverbot aus Art. 4 und/oder das in Art. 18 der Europäischen Charta der Grundrechte verbriefte Asylrecht erwiesen ist? Der erfahrene italienische Rechtsgelehrte Mengozzi, der selbst acht Jahre Richter am EuGH gewesen ist, bevor er in die Generalanwaltschaft wechselte, hat sie bejaht.

Das "Nein" der 13 RichterInnen unter Vorsitz des belgischen Rechtsgelehrten Koen Lenaerts hat die Auffassung nicht nur konterkariert. Sie haben ihre Hände in Unschuld gewaschen, wie einst Pontius Pilatus. Der Visakodex der EU sei nur mit Blick auf einen kurzfristigen Aufenthalt von 90 Tagen alle 180 Tage erlassen worden, eine Regelung für längerfristige Aufenthalte auch aus humanitären Gründen habe die Union dagegen noch nicht getroffen. Alles andere in Bezug auf Visa sei deswegen weiterhin Sache der Mitgliedstaaten. Damit entfalle auch der Schutz der Europäischen Charta der Menschenrechte. Denn die gilt, das sollte bekannt sein, ausweislich ihres Artikel 51 Absatz 1 Satz 1 "ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union".

Mit der Entscheidung ist eine Sachfrage auf unabsehbare Zeit, ob es gefällt oder nicht: gültig beantwortet. Sie rückt die jeweils nationalen Politiken zu Flucht und Vertreibung wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Was soll man von einer ungarischen Führung halten, die nichts anderes tut, als für die Opfer von Gewalt und Krieg Konzentrationslager zu errichten, um sie darin einzupferchen und leichter abzuschieben? Der Historiker Wolfgang Wippermann hat in der Wochenzeitung "der Freitag" daran erinnert, als er sogenannte Abschiebelager im 21. Jahrhundert mit denen von 1920 in Beziehung setzte.

Was soll man erst recht von einer Person wie Theo Francken halten? Der belgische Staatssekretär für Asyl und Immigration, zudem mit der Vereinfachung der Verwaltung beauftragt, twitterte im Anschluss an das Urteil:

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Was er unter "Gewinn" versteht, teilte er tags darauf im Interview mit dem Radiosender rtbf mit: Nun müsse auch "die Möglichkeit ausgeschlossen werden, nach einer illegalen Reise Asyl zu beantragen". Und: "Die Lösung ist, dass man die Türen schließt, in der Türkei, in Libyen, überall!". Das Motto, mit dem Francken auf seinen Regierungsposten gelangt war, lautete: "Belgien hat sich entschieden, die Verletzlichsten auszuwählen. Sie können von alleine nicht kommen, weil sie kein Geld und auch nicht die Kraft haben, bis zu uns zu gelangen". Genau das hat Belgien im Fall des klagenden syrischen Ehepaares und seiner drei Kinder nicht getan.

Vom Recht, Rechte zu haben

Die kommenden Tage haben für die Europäische Union besonderes Gewicht. Im Europäischen Rat wird es um nicht weniger als die künftige Ausrichtung gehen. Fünf Alternativen hat der Präsident der Kommission Jean-Claude Juncker ausarbeiten lassen: Von einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bis hin zu den Förderalen Staaten von Europa, mehr oder weniger Integration. Oder Rückfall in voreuropäische Zersplitterung.

Den zentralen Punkt des gemeinsamen europäischen Projekts, egal welche Gestalt es annehmen wird, hat Paolo Mengozzi in seinem Plädoyer hervorgehoben: Menschenwürde, das Recht auf Leben, das Verbot unmenschlicher Behandlung, das absolute Verbot der Folter und der Schutz des Kindeswohls, mit einem Wort - Menschenrechte. Selbst eine auf einen Kern zusammengeschnurrte Union wird nur zusammenhalten können, wenn sie die darin gefassten Prinzipien, in den Römischen Verträgen weitergehend als Völkerverständigung erklärt, nicht nur respektiert, sondern sie aktiv fördert.

Der französische Philosoph Étienne Balibar hat 2003 in einem kleinen Aufsatz(*) die Außengrenzen der EU zu Prüfsteinen für Bürgerrechte und Zivilität ausgerufen. Die Frage der Offenheit ist keine Rand-, sie ist die zentrale Frage für uns Bürger Europas als Demokratisierung auch und erst recht des Grenzregimes. Verstanden nur als eine der Sicherung hingegen bedeutet sie das Ende der Politik.

Und tatsächlich wirft das Urteil aus Luxemburg ein beängstigend bestätigendes Licht auf das, was Hannah Arendt einst als "das Recht, Rechte zu haben" bezeichnete und forderte. Schon der Umstand, dass die Charta nur bei "Durchführung von Recht der Union" gilt, zeigt, dass ihr kein Verständnis von universellen und unteilbaren Menschen-, sondern allenfalls eines der Bürgerrechte zugrundeliegt. Mehr denn je wird seit Unterzeichnung der Römischen Verträge damit das "Recht auf Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft" essentiell, "in der dem Einzelnen die weiteren Rechte garantiert werden. In eben dieser Mitgliedschaft manifestiert sich die menschliche Würde"(**).

Das Scheitern aber ist bereits da, und das Scheitern nennt sich Brexit. Das Vereinigte Königreich hat in wenigen Monaten demonstriert, wie ein Staat, der den gesetzlichen Schutz aller Einwohner des Territoriums ohne Rücksicht auf ihre Nationalität gewährleisten sollte, nun als Nation Personen alleine schon aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert: Diese Nation hat sich schon an die Stelle des Gesetzes gesetzt. Die verbleibenden 27 Staats- und Regierungschefs werden sich daran messen lassen müssen, ob unbeantwortet bleibt: Welche Nation als Nächste?

(*) Balibar, Étienne, Les nouvelles frontières de la démocratie européenne, Critique internationale 2003/1 (Nr. 18), S. 169 ff.
(**) Anlauf, Lena, Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben, MenschenRechtsMagazin Heft 3/2007, S. 299 ff. (via uni-potsdam.de, pdf, ~130 KB)

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Geschrieben von

ed2murrow

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