Holocaustgedenken – unreine Gedanken

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Holocaustgedenktag wird der 27. Januargenannt. Was für Deutschland am 3. Januar 1996 proklamiert wurde, war ein „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Das Datum, zu dem Soldaten die überlebende Menschheit aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreiten. Seinerseits Symbol für Völkermord. Und wiederum für die UNO-Generalversammlung 2005 Anlass zum internationalen Holocaustgedenktag. Viel Symbolik, späte Symbolik. Allumfassende Symbolik?

Was wird sein, wenn der letzte Augenzeuge der Geschehnisse verschwunden sein wird. Noch gibt es sie, die Überlebenden des KZ Theresienstadt, Michaela Vidláková, die Zeugnis ablegen können, mit eigenen Augen, mit eigenem Erleben, authentisch also, im Interview. Oder vor Schulklassen. Was wird jungen Menschen vermittelt, und wie, wenn es niemanden mehr geben wird, der ihnen sagt: Ich war dabei, es hat sich zugetragen?

Was wird sein, wenn selbst Zeugenschaft nicht in der Lage ist, das Unfassliche in Zahlen auszudrücken, nicht nur, weil es immens schwer ist, das Grauen zu abstrahieren, sondern weil über das eigene oder das Schicksal der Seinen hinaus es kein Erleben von Dimensionen geben kann; die Abstraktion also in Daten erfolgt, in Prozessen; denen das Epitheton der „Siegerjustiz“ umgehängt wird, um eben diese Abstrahierung einer Bürokratie des Unaussprechlichen relativieren zu können?

Was wird sein, wenn auch die wenigen Stimmen, die es je gab, einer eindeutigen und anscheinend doch interpretierbaren Distanzierung von Menschheitsverbrechen, solcher gegen die Menschlichkeit ebenfalls dem Vergessen anheim fallen? Jene der Luce d’Eramo etwa in „Der Umweg“ (Originaltitel: „Deviazione“, auch mit „Irrung“ bedeutbar), der autobiographischen Erzählung einer vormals glühenden Faschistin aus situierter Familie in Italien, die aufgrund eigenen Erlebens sich zu einer Sympathisantin der außerparlamentarischen Linken wandelte, weil sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Um sich vom Spiegel anlässlich der deutschen Übersetzung 1982vorhalten lassen zu dürfen: „Die Patrizierin aus Como aber hat nur ihre Klasse verraten, ihrem politischen Mädchentraum ist sie treu geblieben.“

Was wird sein, wenn Opfer des Nationalsozialismus mit klammheimlicher Zustimmung von vielen jetzt Nomaden genannt werden, und weil diese wurzellos seien, über Grenzen verschoben werden, in Flugzeugen statt in Zügen, weil das leichter zu kontrollieren ist?

Was wird sein, wenn der Versuch, für sich aufzuarbeiten, für den Überlebenden, jetzt -zu Lebzeiten- gemessen und gewogen und befunden wird, wie Dancing Auschwitz? Oder es Nachnachnachgeborenen einfiele, für sich die Frage zu stellen: Vater, warum hast Du mich verlassen?

Lagerdenken.

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Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

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