Internet: „Missbrauch per Mausklick“

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ZDF-Autor Michael Heuer hat eine Dokumentation abgeliefert, die mehr mit dem aussagt, was sie verschweigt; Eine Nachschau

Nach diesen 45 Minuten „Missbrauch per Mausklick“ (in der ZDF-Mediathek einsehbar) sollte der Zuschauer hoffentlich in der Lage sein, nachzufühlen, was Gewalt bedeutet: Die im Gewand von Sexualität, gegen Frauen und die gegen Kinder. Und sich im Klaren darüber sein, dass kinderpornographische Träger, gleich ob auf Papier oder im Netz, nichts, aber auch rein gar nichts mit Bagatelle zu tun haben, sondern eine Perpetuierung von immensem Leid sind.

Einige Fragen, die offen bleiben

Die Frage sollte gestattet sein: Warum hat das ZDF keinen besseren Sendeplatz gefunden, sondern den Film verschämt gestern nach Mitternacht platziert? Dass in der Mediathek der Zugriff erst ab 22:00 Uhr möglich ist, weil für Zuschauer unter 16 Jahren nicht geeignet, kann nur als Kuriosum bezeichnet werden. Die Ermittlungsarbeit des Kommissariats 1.3 bei der Niedersächsischen Polizei, deren Zugriff bis hin zum rechtskräftigen Abschluss durch gerichtliches Urteil wäre ein wohltuendes Kontrastprogramm zur Do-it-yourself-Scharlatanerie eines „Tatort Internet“ von RTL2. Dort wird ab 21:15 Uhr gesendet. Profis bei der Arbeit zuzusehen, zumal solchen wie Kriminaloberkommissar Dieter Scholz vermittelte den notwendigen Eindruck der Ernsthaftigkeit und der Konstante „am Ball bleiben“. Nicht nur weil es ein Job ist, sondern weil Scholz und seine Mitarbeiter selbst zuweilen bis ins Mark getroffen sind von der Widerlichkeit dessen, was auf ihren Monitoren flimmert. Diese Stärken im Film überwiegen bei weitem seine Schwächen.

Wo etwa thematisch übergangslos von der Verabredung zu Straftaten, dem Austausch von einschlägigem Material im Netz umgeschnitten wird auf den Schulhof einer Grundschule. Da die Gruppe der Sechs- bis Zehnjährigen die am stärksten betroffene Gruppe sei, müsse Prävention bereits sehr früh anfangen, so der Tenor. Dass dies jedoch an einem Theaterstück des Vereins Dunkelziffer e.V. für Eltern und deren Kinder in eben dem Alter demonstriert wird, in dem Szenen aus einem Chat nachgespielt werden, die zu einem Übergriff auf dem Nachhauseweg führen, stößt nicht nur bei den sichtlich überforderten Zuschauern (vor allem den Kindern selbst) in der Schulaula auf Unverständnis. Was, um alles in der Welt, haben Kinder, die gerade das Schreiben und Lesen erlernen, in einem Chat zu suchen? wäre die eigentliche Frage gewesen. Sie wurde nicht gestellt.

Belastbare Fakten sind Mangelware

Die größte Schwäche des Films ist, dass die Dimension der Fallzahlen in Deutschland nicht genannt wird. Und dort, wo belastbare Daten etwa von dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke genannt werden, die Anmutung einer gewissen Tendenz nicht von der Hand zu weisen ist. Laut ZDF/ARD-Studie zum Internet sind 2010 rund 50 Millionen Deutsche im Netz unterwegs, davon etwa 76% täglich. 1997, dem ersten Jahr der Erhebung, waren es 4,11 Millionen. Im gleichen Zeitraum haben sich die Fallzahlen bei „sexueller Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB)“ von etwa 17.000 (im Jahr 1997) zu 11.319 (Statistik des BKA für 2009) entwickelt. Eine Veranschaulichung des Komplexes „kinderpornographische Erzeugnisse“ ist nicht so einfach, da die einschlägigen Bestimmungen mehrfach geändert wurden. Ende 2003 wurde der bis dahin einschlägige § 184 Abs. 5 Strafgesetzbuch in „Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften“ in § 184b verwandelt und 2008 nochmals im Anwendungsbereich erweitert. So belaufen sich für die ursprüngliche Bestimmung die Fallzahlen 1997 auf 1.628, für das Jahr 2003 auf 7.241, 2008 waren es 9.362 und für 2009 weist die BKA-Statistik 6.968 aus. Diese Zahlen tauchen im Film nicht auf, nicht einmal angedeutet.

Dafür mehr politische Aussagen

Wenn also in diesem Zusammenhang Zierche darauf verweist, „in den letzten sieben, acht Jahren“ habe es „eine Steigerung von 300% oder über 300% was die Verbreitung kinderpornographischer Bilder im Internet angeht“ gegeben, so lässt sich dies mit der offiziellen Statistik seiner Behörde nur schwer in Einklang bringen. Dies betrifft auch die härteste seiner Aussagen, nämlich: „Steigerung bei den Missbrauchshandlungen bei Kleinstkindern und Babys, also unter sechs Jahren mit einer erheblichen Steigerungsrate ebenfalls von 7 auf 12 bis zu 13%.“ Im Begleitmaterial zur offiziellen Statistik, die im Netz (sic) für jeden einsehbar ist, steht dazu: Nichts.

Gleiches gilt für die zurzeit brisante Frage, ob und inwieweit etwa Chatrooms nicht nur der Anbahnung von Pic- und Filmetausch, sondern ganz konkret zu Verletzungshandlungen führen. Hier operiert der Film lediglich mit Mutmaßungen der Psychotherapeutin Michaela Huber, wonach Pädokriminelle „wahrscheinlich, mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher im Internet gewesen“ sind und erfahren haben, „dass man Dateien erhält, wenn man dort welche hineinstellt.“ Dann „nehme man halt das Kind, das man gerade hat“. Wie man es hat, wo, warum, das wären Fragen zur Vertiefung, die nicht gestellt werden.

Die eigene Botschaft des Autors kommt dagegen zweimal zum Tragen. Mit den ersten Worten des BKA-Präsidenten, wonach die Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht „einen gefährlichen rechtsfreien Raum geschaffen“ habe. Er sei „überrascht, dass sich die Politik bis heute Zeit gelassen hat, noch keine entsprechende Regelung zu erlassen. In dem halben Jahre stellen wir fest, dass 80% unserer Anträge, um Kinderpornographie zu verfolgen, ins Leere laufen.“ Und in einem Zwischenkommentar von Michael Heuer selbst, als es heißt: „Pädokriminelle Kunden suchen immer neue Kontakte. Sie surfen durch Schülerbörsen und andere social-communities. Sie werfen Suchmaschinen an und lauern auf die web-cams in den Kinderzimmern“.

Das Datum, das den Zusammenhang herstellen würde, und was es zu hinterfragen gilt, ist der „schwere sexuelle Missbrauch von Kindern zur Herstellung und Verbreitung pornographischer Schriften, § 176a Abs. 3 StGB“: 2008 waren es 81, 2009 98, 2007 103 Fälle bei einer Aufklärungsquote zwischen 88,8 und 92,6%. Das ist keine Frage an das Internet, sondern an die allgemeine Haltung: Jeder Fall ein Fall zu viel, aber offensichtlich nicht spektakulär genug, um erwähnt zu werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ed2murrow

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