Viel ist derzeit von der leicht salzigen Flüssigkeit im Umlauf, die aus den Augenwinkeln tritt, die Wangen hinab läuft und spätestens beim Abtropfen zur Regung führt. Jeder der die Träne sieht, fühlt: Das ist Rührung, den Gerührten fliegen unsere Herzen zu.
Erst in einem zweiten Augenblick stellen wir uns die Frage nach dem Grund. Ist es Trauer, ist es Wut oder war eine Zwiebel im Spiel? Bis zu dieser Frage bleibt der Grund des ophthalmischen Wasserlassens geheimer Vorbehalt der Vergießer. Sie haben den Vorteil des Effekts, der Geschichte schon in der Kunst der Schminke geschrieben hat. Glycerin mit etwas Wasser vermischt hat als Nahaufnahme mit Gegenlicht ganze Filmkarrieren befördert, von der Dietrich bis zur Monroe; die Maske mit Träne des Pierrot ist so beliebt wie die weitaus prächtigeren, aber sinngleichen des Karnevals zu Venedig. Ein Weckruf zur Anteilnahme.
Helene Hegemanns Heulen im Angesicht von und beim Eintauchen in Bayreuth mag also die szenische Spannung im Geschriebenen mindestens so erhöhen wie einen Kanzlerkandidaten, den es auf öffentlicher Bühne überkommt. Dabei spielen die Genera keine Rolle mehr. Jahrzehnte von Aufforderungen zum emotionalen Coming-Out („Kerl, zeig Deine Gefühle“), gepaart am anderen Ende mit Ermunterung zur Reserviertheit („Frau, beiß die Zähne zusammen“) haben den Cross-Over bewirkt, dass sich wirklich niemand mehr seiner Tränen zu schämen braucht.
Was aber auch dazu geführt hat, dass der im Idealfall glitzernde Tropfen zum allseitigen Accessoire geworden ist, gleich ob auf Oscar-Preisverleihungen oder im Container. Dem kann sich nicht einmal mehr ein Verbalschläger wie Dieter Bohlen entziehen, sondern im Gegenteil. Nachdem seine seit 2002 dauernde Schulung in Sachen Runterputzen & Fertigmachen genügend Schüler in den Anstalten gefunden hat, brauchte es zur Eröffnung der neuen Saison von „Supertalent“ (RTL) des originellen Twists. Wo Bruce Darnell ohnehin nahe am Wasser baut, ein Guido Maria Kretschmer abwinkt („Bruce weint viel schöner als ich“) und Lena Gercke schon nichts zu Lachen hat, ist der vormalige Bruzzler-Bewerber („Jetzt grill ich“) nun erster unter gleichen zerfließenden Menschenfreunden.
Ist das der Untergang des Abendlandes? Nachdem wir schon über serienlange Home-Storys gelernt haben, dass selbst „Sabbath, bloody Sabbath“ nur eine Verkleidung von John Michael Osbourne (für die Fans der Hörner-Geste „Ozzy“) ist, sicher nicht. Und überhaupt: Wer wollte die Echtheit der Wallung solcher Größen wie Al Capone beim Lauschen einer Oper von Verdi oder des Berlusconi beim Klang der eigenen Stimme in Zweifel ziehen? Bestimmtnicht die, die sich der Künstlichkeit der Inszenierung bereits ergeben haben. Davon lebt auch eine ganze Charity-Industrie: Hau auf das Ganzseitenfoto einer weinenden Mutter aus Afrika einen Spendenaufruf, den Rest erledigt das Gefühl.
Jammertal, oder eines der Tränen, nennt das etwas pathetisch ein sehr altes Buch. Seine Autoren kannten unser Format der Reality-Show und damit des Ersatzes in allen Einzelheiten noch nicht, für das wir kaufen, spenden, wählen und uns ganz warm ums Herz wird. Sonst hätten sie garantiert auch ein paar Krokodile im Nil Tränen vergießen lassen. Bei Sonnenuntergang, im Gegenlicht. Zum Steinerweichen. e2m
Eine Antwort auf -> "Müssen Politiker authetisch sein?" von Martin Schlak, der Freitag-online, 27.09.2013
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