Momentaufnahme Italien - Wie man Saviano ehrt

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Als Roberto Saviano am 16. November den Geschwister-Scholl-Preis in München entgegennahm, war er sich möglicherweise der Geschichte, der Assoziationen, der Schicksale bewusst, die in dem Augenblick mitschwangen. Er hat immer wieder sehr viel Zeit zur geistigen Durchdringung von Sachverhalten und Umständen, völlig unbeleckt von den Erfüllungen junger Männer seines Alters, eine Familie gründen, ein Heim schaffen zu können. Der Exilant im eigenen Land Italien wird also Gelegenheit genug gehabt haben, sich bewusst zu werden, dass ihm der Preis im Namen von Gleichaltrigen verliehen wurde, in einer ihm ganz eigenen Wirklichkeit, deren Stichworte sich heute zu 1943 verblüffend und beängstigend zugleich ähneln: Organisiertes Verbrechertum, Korruption, Untergrund.

Das System, mit dem sich Saviano angelegt hat, ist weit mehr als nur eine Ansammlung von Banditen. Es ist in Kampanien wie in vielen Teilen der Erde eine Parallelwelt mit allen Attributen der Staatlichkeit: Hoheitsgebiete, denen man angehört und die notfalls mit Waffengewalt verteidigt werden; Wirtschaftssysteme der Syndikate, die, nur weil illegal, nicht deswegen schlechter funktionieren; Femegerichte nebst Vollstreckung; soziale Strukturen für Hinterbliebene. Wie alle anderen auch haben diese Systeme den Drang, zu wachsen. Nicht etwa, weil dahinter immer ein bestimmter Plan stünde, sondern weil sie angetrieben werden von Menschen und deren Regungen, erst überleben, es dann einmal besser und schließlich noch mehr haben zu wollen. In der legalen Welt hüllt man so etwas nicht selten in das strategische Wort „Vision“ und kleidet es mit dem taktischen einer „Doktrin“ oder „Staatslehre“. Als Trennlinie zum Verbrechertum wird dabei gerne die zwischen einem absoluten Gut oder Böse gesehen und ist doch nur Ausdruck einer überwiegenden Akzeptanz, man nennt sie im heutigen Deutschland auch Grundkonsens. Deren Wankelmütigkeit mag man daran ablesen, dass vor nicht ganz zwei Generationen das organisierte Verbrechen in seiner besonderen justiziellen Ausformung eines „Volksgerichtshofes“ junge Menschen, die heutezu Recht als Vorbilder gewürdigt werden, als „Dümmlinge und Kriminelle“ abstempeln durfte, bevor es sie richtete. Der Grundkonsens wartete bis 1985, bevor er jenes als Nichtgericht apostrophierte. Verächtlich wird auch Saviano gemacht: In seiner eigenen Heimatprovinz mit den halben Sätzen und Gesten, die seinem Landstrich zu Eigen für die Persönlichkeit vernichtender sind als das Todesurteil der Clans; in der Politik ganz explizit durch Leute wie Gaetano Pecorella, der kraft seines Amtes eigentlich die Camorra zum Gegner haben müsste. Der Autor, so Pecorella in einem Interview im August dieses Jahres, habe „wenig menschliches Einfühlungsvermögen“ und sei „die am wenigsten geeignete Person, über solche Dinge zu sprechen.“ Er, der Abgeordnete in Rom und parlamentarische Kommissionsvorsitzende für Müllfragen in Neapel, im Hauptberuf Anwalt, weiß, wovon er spricht. Nunzio de Falco war sein Klient, einer jener berüchtigten Casalesi, über die bei Gomorra berichtet wird, ein Camorrista, der Müll zu Geld machte. Hier offenbart sich der Schnittpunkt, wo die parallelen Welten sich treffen, in der Ausübung von Macht.

Korruption, das zeigt uns die Heimat Savianos jeden Tag aufs Neue, ist nicht nur das verschwiegene Zustecken von Geld, sondern die Kollusion, die über die reine Komplizenschaft zwischen Bestecher und Bestochenem weit hinaus geht. Komplizen haben nur einen gemeinsamen Tatplan. Kollusion ist dagegen die Koordination unterschiedlicher Strategien zum jeweils eigenen Vorteil. Wenn heute die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Palermo die Mordakten Borsellino und Falcone aus dem Jahr 1992 wieder geöffnet hat, dann deswegen weil ruchbar geworden ist, dass der unerbittliche Mafiajäger Borsellino hinter ein Staatsgeheimnis gekommen war, um dessen Geheimhaltung willen er vielleicht sterben musste. Der italienische Staat hatte mit dem organisierten Verbrechen, vertreten durch die untereinander um die Vorherrschaft ringenden Bosse Totò Riina und Bernardo Provenzano Verhandlungen aufgenommen, um die von der Mafia geführte Strategie der Massaker, der Politiker, Journalisten und Gewerkschafter zum Opfer gefallen waren, aufzuhalten. Etwas, was der Staat 1978 den Roten Brigaden, die den charismatischen Christdemokraten Aldo Moro in Händen hielten, verweigert hatte. Borsellino sagte zwei Tage vor dem Attentat, das außer dem seinen weiteren fünf Menschen das Leben kostete, zu seiner Frau: „Weißt Du Agnese, gerade habe ich der Mafia ins Gesicht geschaut ...“. Er war zurück von einer Dienstreise nach Rom, der damalige Justizminister Claudio Martelli bestätigt erst jetzt, nach 17 Jahren, dass zu dieser Zeit Borsellino von den Verhandlungen erfuhr. In Gomorra zitiert Saviano die Sichtweise der Camorra: „Wir lebten mit dem Staat. Für uns sollte der Staat weiter bestehen und zwar so, wie er war, nur dass wir einen anderen Ansatz hatten als die Sizilianer. Während Riina von der Isolation einer Insel kam, von einem Berg herab, gerade wie ein alter Schafhirte, hatten wir diese Beschränkung schon überschritten, wir wollten mit dem Staat leben. Wenn uns im Staat jemand behinderte, fanden wir einen anderen, der bereit war, uns zu helfen.“ Mit dem Zitat wird nicht nur der Mythos entkernt, die italienische Politik bekämpfe das Verbrechen. Vielmehr tropft aus diesen Zeilen die Selbstverständlichkeit, mit der das „illegale“ System sich sicher war, das „legale“ Pendant, den Staat, in Fall der Fälle ausschalten zu können. Man kann sagen, es war das Glück Savianos, dass er von den Zusammenhängen um Borsellino nicht wusste, nichts wissen konnte, als er Gomorra schrieb, dass seine Ausführungen zur Kollusion zwischen Verbrechen und Politik im Ungefähren, im Angedeuteten blieben. Er würde, Leibwache hin oder her, sonst nicht mehr leben. Denn seine Investigationen hätten ihn unweigerlich nicht nur zu Namensnennungen auf Seiten der Camorra gebracht, sondern ihn mitten in das offizielle Machtzentrum Italiens geführt. In eine Zeit, als Berlusconi sich aufmachte, die politische Bühne zu betreten, in eine Zeit, 1978 wie 1992, als Giulio Andreotti Ministerpräsident war.

Und doch muss Saviano im Untergrund leben. Nicht etwa klandestin, aber, wie er sagt, im Ausland freier als in Italien. Sein ständiges Engagement sowohl gegen das Verbrechen im engeren Sinne als auch gegen die Kollusion geht weit über seine Bücher hinaus. Er ist zu einem unbequemen Begleiter, einem perpetuierten schlechten Gewissen des italienischen Zeitgeistes geworden, der in den letzten Jahren von der „arte dell’arrangiarsi“ (die Kunst der Improvisation)zum „mangia mangia“(großen Fressen) mutiert ist. In seiner eigenen Parallelwelt trifft er auf den Geist Lion Feuchtwangers und auf ganz realen Gestalten wie Salman Rushdie oder Seyran Ateş. Auch um solche Menschen wachsen Systeme, die des freien Geistes und des freien Wortes. Den Geist beschreibt Saviano so: „Ehre ist es, wenn die eigene menschliche Würde von großem Unrecht verletzt wird, wenn man sich unabhängig von Vor- oder Nachteilen geradlinig verhält, wenn man das verteidigt, was es wert ist, verteidigt zu werden. Und die Ehre, die habe ich hier im Süden erlernt.“ „Freiheit und Ehre“ waren die Schlussworte des letzten Flugblattes der Weißen Rose. Sophie Scholl war21, ihr Bruder Hans 24, Saviano 26, als Verbrecher gegen sie die Todesurteile verhängten und ihnen die bürgerliche Ehre nahmen. Worte in Freiheit werden überleben.

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Geschrieben von

ed2murrow

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