Brutal einfühlsam

Kinderhandel Der Bangalore-Krimi „Gewaltkette“ erspart uns nichts, macht aber Spaß
Ausgabe 45/2017

Inspektor Borei Gowda ist einer dieser grantigen und eigenbrötlerischen Polizeiermittler, die schon viel zu lange dabei sind und deshalb nur noch selten ein Blatt vor den Mund nehmen. Gowda buckelt sich nicht die Versetzungsleiter hinauf, er ist unbestechlich, hat ein Herz aus Gold, seine Quote von komplizierten und gelösten Fällen ist unerreichbar. Dafür sehen auch seine Kollegen von der Neelgubbi Polizeistation, allen voran seine beiden engen Mitarbeiter, Santosh und Raina, großzügig über so manches hinweg: Der Chef trinkt zu viel, raucht wie ein Schlot und ist der festen Überzeugung, dass der Zweck fast alle Mittel heiligt. Gowda betrügt seine Ehefrau und agiert auch sonst emotional nicht sonderlich rühmlich oder geschickt, er tappt im Dunklen, etwa dann, wenn es darum geht, seiner Geliebten gegenüber die richtigen Worte zu finden oder eine tragfähige Beziehung zu seinem Drogen konsumierenden Sohn aufzubauen.

Als Gowda zu der Leiche eines angesehenen Anwalts in eine exklusive Wohnanlage in Neelgubbi, einem aufstrebenden Vorort des indischen Silicon Valleys, Bangalore, gerufen wird, rollt im Team die übliche Ermittlungsroutine an, Gowdas chaotisches Privatleben läuft unberührt weiter. Auch das plötzliche Verschwinden der zwölfjährigen Nandita, der Tochter von Gowdas Haushälterin, reiht sich zunächst eher zufällig in Gowdas Alltag ein. Bis der Inspektor anfängt, Routine und Zufall zu einer Spur zu verketten, die ihn direkt in die Schattenwelt von Südindiens drittgrößter Stadt und einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte im internationalen Menschenhandel führt.

Anita Nairs Prosa ist frei von Voyeurismus. Unerschrocken verbindet sie in ihrem zweiten Inspektor-Gowda-Fall, und dem ersten ins Deutsche übersetzten, Unterhaltung und grausame Aktualität. Vor dem Hintergrund der mean streets von Bangalore fächert sie gekonnt nicht nur die soziale Anonymität des indischen Großstadtdschungels auf, die unaufhaltsame Urbanisierung und Kriminalisierung kleiner Vororte wie Neelgubbi, sondern auch die perfiden Mechanismen des internationalen Kinderhandels. Dabei überlässt sie kaum etwas der Fantasie. Detailliert führt sie dem Leser die tägliche Pein von Kindern vor, die in einer Kette von Vergewaltigung, Erniedrigung, Misshandlungen und Ausbeutung gefangen sind.

Die seit langem in Bangalore ansässige Inderin Anita Nair hat zwei Jahre lang für eine Sozialarbeits-NGO gearbeitet, bei der Don-Bosco-Organisation, sie ist dabei täglich den Gesichtern der Opfer von Kinderarbeit und Zwangsprostitution begegnet.

Der Figur von Inspektor Gowda allein ist es geschuldet, dass Gewaltkette trotz der drastischen Schilderungen indischer Realitäten unterhaltsam bleibt. Mit angenehmer Leichtigkeit springt Nair zwischen Gowdas ausführlichen, bisweilen höchst komischen Selbstgesprächen über Kollegen, über die Ränkespiele seiner Vorgesetzten, zu den Problemen in seiner Familie, mit seiner Geliebten, zum Einzug von Wellnessoasen und neuer Kriminalität in das noch ländlich geprägte Neelgubbi, und den eindringlichen Einblicken in die Innenwelt sexuell missbrauchter Kinder.

Der schottische Bestseller-Autor Ian Rankin kürte Anita Nairs 2016 unter dem englischen Originaltitel Chain of Custody erschienenen Thriller zu einem der besten Krimis des Jahres: „Dieses Buch ist brutal und zugleich einfühlsam.“

Info

Gewaltkette Anita Nair Karen Witthuhn (Übers.), Argument Verlag mit Ariadne 2017, 352 S., 19 €

Die Bilder des Spezials

Terje Abusdal lebt und arbeitet in Oslo. Für seine Reihe Slash & Burn erhielt der 1978 im norwegischen Evje geborene Fotograf den renommierten Leica Oskar Barnack Award.

2014 studierte er in Aarhus an der Dänischen Schule für Medien und Journalismus und besuchte anschließend mehrere Meisterklassen. 2015 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch Radius 500 Metres. In seinen Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, widmet er sich vor allem den Themen Identität und Migration. Die Reihe Slash & Burn entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Was bedeuten Tradition und Mystik? Wann gehört man zu einem Land, zu einer Gruppe? In Slash & Burn gelingt Terje Abusdal eine magische Annäherung an die Waldfinnen, eine historische naturverbundende Volksgruppe in Skandinavien. Bei ihnen sei „ganz unabhängig von deinem ethnischen Ursprung – das Kriterium der Zugehörigkeit eindeutig: Man spürt es einfach“. Die Bilder aus Slash & Burn erscheinen 2018 im Kehrer Verlag. Im Internet findet man Zugang zuseinem Werk unter: www.terjeabusdal.com

Edina Picco arbeitet seit 2004 als freie Autorin in Berlin, zuletzt erstellte sie 2016 für Deutschlandfunk Kultur die Hörspielfassung von Sangre Kosher nach Motiven des gleichnamigen Romans von María Inés Krimer

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