Faszination für Fakten

True Crime Hallie Rubenhold erzählt nicht die Geschichte von Jack the Ripper, sondern die seiner Opfer
Ausgabe 46/2020

Wer schon einmal an einem nebligen Herbstabend in den engen Gassen abseits der Brick Lane, im Londoner In-Viertel Whitechapel unweit der Docks, gestanden hat, der hat sicher nicht nur die Kulisse für Dickens Oliver Twist vor Augen gehabt, sondern auch einen Schauer gespürt, der von dem Namen ausgeht, mit dem Londons East End unwiderruflich verbunden bleibt. Seit mehr als einem Jahrhundert steht der mysteriöse Serienmörder von Whitechapel im Mittelpunkt von zahlreichen Spekulationen, teils seriösen, teils populärwissenschaftlichen sowie fiktionalen Publikationen, Filmen, Comics, Computer-Games und Musicals. Gleich welches Medium man heranzieht, wen man fragt, es geht stets um den Mann, dessen Identität und Motive unaufgeklärt bleiben: Jack the Ripper.

Das Narrativ beginnt fast immer im Jahr 1888, in dem binnen nur weniger Wochen fünf Frauen auf bestialische Weise ermordet wurden und die man, bemüht um Pietät, im Nachruf euphemistisch als Frauen, die „niemand und allen angehören“ titulierte. Während die damalige Fleetstreet-Presse ihren Mörder in Ermangelung seines echten Namens Jack taufte und wortspielerisch „the Ripper“ hinzufügte, was ihn sowohl zum „Schlitzer“ wie auch „Könner“ hochstilisierte, fristeten seine Opfer ein tristes Schattendasein als „Dirnen“, „Freudenmädchen“ und „Prostituierte“. Nach 132 Jahren soll Schluss damit sein, zumindest, wenn es nach der 1971 in Los Angeles geborenen Historikerin Hallie Rubenhold geht, deren erklärtes Ziel es ist, Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly zurück ins Scheinwerferlicht zu führen und ihnen posthum ihre Gesichter zurück zu geben.

In den Archiven Londons

Für den True-Crime-Titel The Five – Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden, der in der deutschen Übersetzung im Schweizer Nagel & Kimche Verlag erschien und der 2019 als bestes britisches Sachbuch ausgezeichnet wurde, musste die Geschichtswissenschaftlerin tief in die Archive Londons abtauchen. Drei Jahre lang hat sie mit der Akribie ihrer Zunft sowie der Ausdauer einer Detektivin Schulter an Schulter mit KollegInnen und „Ripperlogen“, wie sich die selbst ernannten Hobbydetektive nennen, die auch heute noch scharenweise ins Londoner East End strömen, Gerichtsprotokolle, Polizeiakten, Zeugenaussagen, Kirchenregister und Meldelisten von Armenhäusern und Hospitälern gewälzt. Doch während sich alle nach wie vor auf die Identität des Mörders kaprizieren, machte es sich die in London lebende Rubenhold zur Mission, die Würde der fünf Frauen, die im Spätsommer und Frühherbst 1888 mit aufgeschlitzter Kehle und ausgeweidet nahe den Docks aufgefunden wurden, wiederherzustellen.

Konsequenterweise setzt Rubenholds biografische Aufarbeitung nicht erst am 31. August 1888 ein, als Mary Ann „Polly“ Nichols bereits ihrem Täter begegnet war, um das erste der fünf Opfer einer perfiden, angeblich sexuell motivierten Mordserie zu werden, sondern ganze 43 Jahre zuvor, und zwar bei Pollys Geburt, am 26. August 1845. Anhand bereits bekannter und auch neuer Fakten rekonstruiert Rubenhold eindringlich die Lebensgeschichte der im Umfeld der berühmten Druckerpressen- und Zeitungsmeile Fleetstreet aufwachsenden Schmiedtochter Polly. Kunstvoll verknüpft sie Pollys Vita mit zeitgeschichtlichen Ereignissen im von Kriminalität und moralischem Verfall geprägten Sündenpfuhl East End, das zwischen seinen circa 460.000 Einwohnern kurz vor der Jahrhundertwende auch das Auffangbecken für etwa 60.000 Obdachlose war.

Wo die historischen Daten zu Pollys Unterschichtsleben fehlen, kommt Rubenholds lebhafte Imagination als Romanautorin und Beraterin für die Historiendramaserie Harlots – Haus der Huren zum Einsatz. Ganz im dickensschem Geiste zeichnet sie inmitten einer zutiefst moralistischen Sozialfürsorge, welche auch heute noch die Schuld für Armut beim Einzelnen sucht und damals das Elend lediglich verstärkte, Pollys kleines, aber für die Zeit exemplarisches Abgleiten aus der Position einer besser situierten Arbeiterschichtsangehörigen. Aus unzähligen Puzzleteilen setzt Rubenhold im Folgenden Stück für Stück ein Frauenschicksal nach dem anderen zusammen und verdeutlicht die fatale Abwärtsspirale aus Alkoholismus, Abhängigkeit von Männern, wiederholter Mutterschaft und erschöpfenden Totgeburten sowie häuslicher und sexualisierter Gewalt, Erwerbslosigkeit, Armut, Verzweiflung, Obdachlosigkeit und einer gesellschaftlichen Randstellung als Prostituierte, der viele Frauen damals erlagen. Auch wenn Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly nachweislich in dieser Spirale gefangen waren, so gibt es für Rubenhold jedoch keine stichhaltigen Belege für die bis dato weit verbreitete Annahme, die Mordopfer hätten sich allesamt als Freudenmädchen verdingt.

Auf über 400 Seiten pocht Rubenhold darauf, dass einzig Mary Jane Kelly erwiesenermaßen professionell im Sexbusiness unterwegs war. Mit Vehemenz stemmt sie sich gegen das übliche Victim blaming, die Frauen trügen durch ihren „verruchten“ Lebenswandel eine Mitschuld an ihrem Mord. Dabei zeigt sie auf, wie die fünf Frauen in mehrfacher Hinsicht zu Opfern gemacht wurden. Denn lange bevor der Zufall Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary Jane ihrem Mörder in die Hände trieb, fielen sie der menschenverachtenden Industrialisierungsmaschinerie des aufstrebenden Empires und seiner misogynen Gesellschaftsordnung zum Opfer, um nach ihrem Gewalttod schließlich auch für einen unglaublichen Medienrummel verheizt zu werden, von einer Yellow Press, welche es bis heute nicht leid wird, unsere Faszination für das Böse auszuschlachten und Serienmördern wie Jack the Ripper Kultstatus zu verleihen, während ihre Opfer in Fußnoten enthumanisiert werden.

Hallie Rubenhold gelingt es, die Frauen ganz nebenbei in unsere Gegenwart zu heben. Sie porträtiert ihre Heldinnen als Frauen wie „du und ich“ und macht damit deutlich, dass sie, wie viele Frauen heute noch, schlichtweg das Pech hatten, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein. Bei aller noblen Absicht und dezidiert feministischer Perspektive kann die Autorin jedoch nicht dem Drang widerstehen, die berühmte Prostituierten-Theorie durch eine eigene zu ersetzen. Nach Rubenhold war es die Obdachlosigkeit, die diese Frauen schutzlos ihrem Mörder auslieferte. Im Verlauf ihres sozialen Abstiegs hatten sie die Sicherheit eines eigenen Zuhauses zugunsten von billigen Bleiben, Schlafplätzen in Not- und Massenunterkünften und letztlich mit der offenen Straße eintauschen müssen. Bis auf die in einem Freudenhaus-Bett aufgeschlitzte Mary Jane suchten die Frauen in dunklen Hauseingängen und Seitengassen einen geschützten Ort für die Nachtruhe, als sie ihr Mörder in der Dunkelheit und vor allem im Schlaf überraschte, konstituiert Rubenhold. Mit dieser Schlaf-Theorie wirft sie allerdings nicht nur eine neue Vermutung über die Tatmotive des Serienmörders in den Ring, sondern springt auch letztlich mit auf den Jack the Ripper-Zug auf, den sie gleichzeitig so gründlich verurteilt.

Rubenhold vollzieht jedoch einen wichtigen und dringend notwendigen Perspektivenwechsel, was auch der renommierte britische Baillie-Gifford-Preis, mit dem sie 2019 ausgezeichnet wurde, honoriert. Von validen Tatsachen untermauert, ohne in einen trockenen Historikerduktus zu verfallen, stellt sie bereits Bekanntes in einen neuen Kontext. Dabei entwirft sie berührende Szenarien, die immer wieder klare Parallelen zur Gegenwart erlauben und das nicht nur in Bezug auf die seit der Corona-Krise täglich im öffentlichen Raum sichtbareren Spuren einer allgemein zunehmenden Obdachlosigkeit, sondern auch zu der aktuell rasant nach oben schnellenden Frauenarmut, wie sie auch die kürzlich erschienen Jahresberichte der EU-Kommission sowie der OECD als Ergebnis der Pandemieauswirkungen vorhersehen.

Exemplarische Schicksale

Stellt sich die Frage nach der Leserschaft für diesen True-Crime-Titel. Für den durchschnittlichen Krimileser fällt das Werk, trotz seines typisch amerikanisch lockeren Stils vermutlich doch zu trocken aus. Echte Ripperlogen werden zweifelsohne ihr Hauptforschungsobjekt vermissen und sich möglicherweise an Rubenholds Schlaf-Theorie stoßen. An der viktorianischen Gesellschaft und Ära interessierte Leser dürften auf Titel wie etwa Seth Kovens Slumming zurückgreifen. Bleibt eine feministisch-kriminologisch interessierte Leserschaft, welche die in Hallie Rubenholds Buch eingebettete Spiegelfunktion zu schätzen weiß, die im Narrativ der Frauenschicksale Parallelen zum Ungleichgewicht im gegenwärtigen Geschlechterverhältnis sichtbar macht. Diese Selbstreflexivität verleiht vielleicht auch den fünf sinnlosen Morden im Nachhinein keinen Sinn, legt aber offen, wie sehr diese traurigen, exemplarischen Schicksalen heutigen ähneln, wenn wir die Perspektive wechseln.

Alles fließt

Dorothee Waldenmaier studierte als Meisterschülerin Bildende Kunst an der HGB Leipzig. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Für ihr Fotobuch Fluss erhielt sie den Förderpreis für junge Buchgestaltung der Stiftung Buchkunst und den Deutschen Fotobuchpreis. Waldenmaiers Arbeiten wurden unter anderem im Dortmunder U, Goethe-Institut Paris und im Printing Museum in Tokio ausgestellt.Alles fließt: Fluss ist eine bildnerische Abhandlung eines Flusses am Beispiel der Spree. Ein Manifest der Form. Die Bilder laden zur Reflexion über Wahrnehmung und den Mikro- und Makrokosmos der Naturformen ein. Sie zeigen die Schönheit des Formlosen und Beiläufigen.

Info

The Five. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden Hallie Rubenhold Susanne Höbel (Übers.), Nagel & Kimche 2020, 448 S., 24 €

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