„Empathie ist da“

Interview Männer können nicht über Gefühle reden, heißt es. Aber sie können es lernen, sagt Autor Christian Seidel
Ausgabe 17/2018

Männer können kaum über ihre Gefühle und erst recht nicht über ihre Sexualität reden, heißt es oft. Besonders deutlich werde das durch die #metoo-Debatte zu sexualisierter Gewalt. Zeit, mal jemanden zu fragen, der das erklären kann: den Schriftsteller Christian Seidel.

der Freitag: Herr Seidel, in Ihrem Buch „Ich komme – Was Mann beim Sex fühlt“ beschreiben Sie männliche Gefühle. Warum fällt es manchen Männern so schwer, über Sex zu sprechen?

Christian Seidel: Weil das nicht männlich ist. Die männliche Geschlechterrolle, die über Jahrhunderte verfestigt wurde, verbietet das und grenzt Weiblichkeit aus. Alles, was als vermeintlich weich, schwach, weiblich gilt, wird nicht angenommen und nicht so leicht gelebt. Dadurch entsteht ein unglaublicher emotionaler Überdruck. Sex ist für Männer etwas, das immer super sein muss und immer passt.

In einem Kapitel schreiben Sie, dass Sie sich mit dem Wort „Teil“ für Penis nie anfreunden konnten. Damit fange der Irrtum hinsichtlich männlicher Sexualität schon an.

Zur männlichen Sexualität gehört mehr als nur irgendein Gefühl im Penis. Der Irrtum ist, dass der Eindruck besteht, dass ein Mann praktisch immer kann und immer alles gut findet, was Sex anbelangt. Und wenn er’s bei einer Frau nicht gut findet, geht er zur nächsten. Das wird tatsächlich in einer gewissen Weise praktiziert. Aber so fühlt der Mann ja nicht wirklich. Es wird auch vom Mann beim Sex tief gefühlt. Da liegt das große Missverständnis: dass Männer dazu nicht in der Lage seien, Sexualität auf ähnlich intensive Weise zu fühlen wie Frauen.

Gibt es Orte, an denen Männer offen und fernab jeglichen Machogelabers über ihre Sexualität sprechen können?

Es gibt keinen Rahmen für das Ausdrücken oder Ausleben der männlichen Sexualität. Der einzige Raum, den es dafür gibt, ist das Schlafzimmer.

Zur Person

Christian Seidel, 59, ist Autor, insbesondere zu Gender-Aspekten. In seinem bekanntesten Buch Die Frau in mir (2014) beschreibt er seinen Versuch, zwei Jahre als Frau zu leben. 2016 erschien von ihm Genderkey – Wie sich Frauen in der Männerwelt durchsetzen

Foto: Florian Seidl

In Ihrem Buch verbinden Sie immer private Anekdoten mit biologischen Definitionen. Wollten Sie mit Ihrem Buch auch aufklären?

Diesen Anspruch hatte ich schon. Aber ich muss fairerweise sagen, dass ich Schriftsteller bin und kein Wissenschaftler. Deshalb will ich nicht vermessen sein und sagen, dass ich über die männliche Sexualität als solche aufkläre. Ich habe als Mann viel Erfahrungen mit meiner eigenen Sexualität gemacht, also kann ich von mir erzählen. Im Zuge des Buches habe ich versucht, mit sehr vielen Männern über ihre Sexualität zu sprechen – das war nicht immer möglich. Es gibt zur männlichen Sexualität nämlich keine Gesprächskultur. Bei dem einen oder anderen gab es eine gewisse Bereitschaft zum Austausch, aber es fehlt die Gewohnheit. Vielen Männern fehlen allein schon die richtigen Worte.

Oft hört man von Männern, dass es ihnen leichter fällt, mit Frauen über Sex zu sprechen. Warum?

Sex unter Männern zu besprechen, stellt eine bestimmte Härtestufe dar. Das hieße ja, dass ein Mann sich zuerst dem anderen öffnen und sich verletzlich zeigen müsste und gegebenenfalls sogar den anderen davon überzeugen müsste, dass es sinnvoll sei, jetzt über Sex zu sprechen. Er ist darauf angewiesen, dass der andere sich ebenso schnell öffnet, sonst kann es schnell peinlich werden. Männer leben mehr nebeneinander und Frauen mehr miteinander. Männern fehlt oft die Empathie und Emotionalität als Verbindung. Frauen reden offener untereinander über Gefühle und Körperlichkeiten.

Sie verwenden in Ihrem Buch eine explizite Sprache. Warum war es für Sie wichtig, so offen zu sein?

Am Anfang habe ich stark mit mir gerungen, den richtigen Schreibstil zu finden. Ich habe aber gemerkt, dass ich mit Metaphern und poetischen Wendungen vom Thema wegkomme. Ich wollte zunächst auch literarischer schreiben, weil ich Angst hatte vor einer Bloßstellung und den Reaktionen darauf. Beim Schreiben habe ich aber gemerkt, dass das verlogen wäre. Je konsequenter und offener ich beim Schreiben war, desto freier habe ich mich am Ende selbst gefühlt.

Mehr Feminismus

Kooperation Mit dieser Ausgabe starten der Freitag und das feministische Portal www.editionf.com eine einzigartige Zusammenarbeit: Künftig werden die Wochenzeitung und das Webmagazin anspruchsvolle Texte austauschen. Wir versprechen uns davon mehr Feminismus und Gender-Aspekte in Print und Online. Edition F berichtet seit 2014 aus weiblicher Perspektive über Gesellschaft, Politik, Arbeit, Wirtschaft, stets mit der Frage: Wie können Menschen gleichberechtigt und gut leben? Das „digitale Zuhause für Frauen“ (Edition F über Edition F) mit 600.000 Leserinnen und Lesern ist mehrfach preisgekrönt. Der obige Text über männliche Sexualität erschien zuerst beim Webmagazin

Im Zuge der #metoo-Debatte wurde Männern vorgeworfen, sie würden zu wenig dazu äußern.

Das stimmt. Wir sprechen zu wenig darüber, woher übergriffiges Verhalten kommt. Das macht mich fast sauer. Das Hauptproblem ist die männliche Sexualität: Was ist mit ihr los, dass die so übergriffig ist? Warum wird mit Macht und Druck agiert?

Ja, warum?

Der Punkt ist: Wenn man beim Sex fühlt und dabei Empathie und Empfinden zulässt, ist es nicht mehr möglich, jemand anderem wehzutun. Wenn ich empfinde, dann empfinde ich nicht nur mich, sondern auch die andere Person und deren Freude. In dem Moment, in dem ich den Schmerz des anderen spüre, dann ist bei mir sofort Stopp. Bei den großen Debatten wird das nicht oft genug thematisiert.

Sie sprechen ebenso die Verrohung unserer Sexualität durch Pornografie an. Überfordern wir junge Männer und Frauen, wenn wir die Aufklärung solchen Filmen überlassen?

Absolut. Man kann in Untersuchungen nachlesen, dass junge Menschen zwar immer früher aufgeklärt sind, aber dass sie das immer weniger von den Eltern oder realen Menschen erfahren, sondern von Pornos lernen. Die Überforderung entsteht dadurch, dass in der Pornografie die Sexualität als etwas komplett Funktionalisiertes dargestellt wird. In den meisten Pornos wird eine um die Sinnlichkeit amputierte Sexualität gezeigt. Junge Menschen sehen darin nur, wie man auf eine pseudoklischeegeile Weise schnell zum Orgasmus kommt. Das Ganze hat in der Funktion nicht nur diesen Druckablass und die Befriedigung, sondern – und das muss man ganz klar benennen – die Erniedrigung der Frau. Es gibt unzählige Pornoseiten, auf denen Frauen fertiggemacht werden. Ich möchte nicht ausschließen, dass manche Männer aus Pornos Anregungen zu bestimmten kriminellen, sexualisierten Handlungen bekommen.

Was muss passieren, dass Männer weniger das Gefühl haben, sie müssten sich für ihre Emotionen schämen und offener zu ihren Gefühlen stehen können?

Seit der Einführung der Frauenquote, wo ein paar Dinge in Richtung Gleichstellung gelungen sind, ist alles stehengeblieben. Als könnten wir jetzt zufrieden sein, weil ein paar Frauen in die Vorstandsebenen kommen. Das kann es ja nicht sein.

Sondern?

Eine Gleichstellung, also sich tatsächlich auf gleicher Ebene zu begegnen, kann nicht nur dadurch funktionieren, dass die Frauen auf die Männer zugehen. Gleichzeitig müssen die Männer auf die Frauen zugehen, sie müssen sich der Weiblichkeit öffnen und lernen, Wesenszüge anzunehmen, die ihnen von Natur aus mitgegeben wurden, anstatt sie abzulehnen.

Wie lernen Männer das?

Empathie ist da, die meisten Männer fühlen sie auch. Aber sie müssen danach handeln – dafür aber brauchen sie die Frauen. Männer sind oft zu verschlossen und erkennen das Problem nicht, weil ihr Selbstbild und die männliche Geschlechterrolle nur ein Gefühl zulassen: nämlich, dass bei ihnen alles in Ordnung ist.

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