Lärm-Diskriminierung: Warum sind die Deutschen so auf Stille erpicht?
Stadtpolitik Wer in einer Stadt wie Berlin Lärm verursachen darf, spiegelt wider, wer dort erwünscht ist. Wenn Migranten oder vermeintliche Gentrifizierer aus den USA laut sind, findet das kaum jemand akzeptabel
Gentrifizierung ist ein Schimpfwort. Die meisten tendenziell linken Millennials, die ich kenne, wollen nicht als Gentrifizierer*innen gesehen werden. Sie denken bei dem Begriff an ekelhafte Yuppies, intellektuell oberflächliche Personen, die für ein Start-up arbeiten und nur monetäre Ambitionen hegen. Ob in den sozialen Medien oder lockeren Gesprächen: In den meisten Berliner Diskussionen über Gentrifizierung werden implizit oder explizit US-amerikanische (manchmal auch britische) Ausländer*innen für den Anstieg der Mietpreise verantwortlich gemacht. Es gibt die explizite Formel, dass sich irgendwer immer mit großem Stolz abfällig über die Neuankömmlinge äußern und sie in patrizischem Tonfall darauf hinweisen wird, dass Ausl&
sländer*innen und nur sie allein die Ursache für die Unruhe im deutschen Stadtbild und die hohen Mietpreise sind.Vor einiger Zeit erschien in der Zeitschrift The Atlantic ein Artikel von Xochitl Gonzalez, in dem sie die Frage stellte: „Why Do Rich People Love Quiet?“ – Warum mögen reiche Leute es ruhig? Ich habe damals auf Twitter scherzend „Rich People“ durch „Germans“ ersetzt, um darauf anzuspielen, wie sehr die deutsche Gesellschaft Ruhe liebt. In den fünf Jahren, die ich inzwischen in Deutschland lebe, habe ich immer wieder miterlebt, wie Fremde und Nachbarn die Polizei einschalten oder die Ordnungskräfte rufen, wenn sich andere vor einem Späti unterhalten oder auf einem Balkon lachen. Das Recht auf Ruhe und Lärm polarisiert, das gilt insbesondere für die Debatte um die deutsche „Ruhezeit“, in der Deutsche und Nicht-Deutsche ihre Haltung zu Ruhe und der damit verbundenen Kultur äußern. Die einen schrieben zu meinem Tweet, die Ruhe werde pathologisiert, die anderen, es sei der Lärm, der pathologisiert werde. Was sich in diesen Kommentaren verbirgt: Für den Lärm und die steigenden Wohnkosten werden Ausländer*innen verantwortlich gemacht. Feindbild Gentrifizierer*innenDer deutsche Spott über das Verhalten von Ausländer*innen ist nicht ganz neu, und nicht immer geht es dabei um Lärm. Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg türkische „Gastarbeiter*innen“ anwarb, ließen sich viele in Berlin nieder und waren dabei auf Kreuzberg, Neukölln und den Wedding beschränkt. Zwei Jahrzehnte nach der ersten Migrationswelle entschieden sich viele, in Deutschland zu bleiben und ihre Kinder hier großzuziehen. Obwohl das Gastarbeiterprogramm 1973 auslief, zog die Präsenz der türkischen Diaspora Ermahnungen der Westberliner Mehrheitsgesellschaft nach sich, die oft mit allzu simplen Ansichten über die Migrant*innen einhergingen, vor allem in Bezug auf religiösen Dogmatismus und patriarchalische Strukturen. Doch die deutsche Feindseligkeit war nicht nur ideologisch, sie hatte auch materielle Folgen. 1977 berichtete die New York Times, dass die Mieten in Kreuzberg zwar erschwinglich seien, viele der türkischen Migrant*innen hätten aber den Eindruck, dass ihre Vermieter*innen von ihnen mehr Geld als von deutschen Mieter*innen verlangten. Was den Lärm betrifft, so war er damals wie heute ein Hebel, um Polizeikontrollen zu veranlassen und zu sehen, was vor sich geht. Wenn aber vor allem die Polizei zum Einsatz kommt, um Lärm zu regulieren, dann reguliert das letztlich das Verhalten der Menschen.Wenn Lärm mit Veränderungen im urbanen Raum einhergeht, verbindet sich der Wunsch nach Ruhe immer auch mit sozialer Kontrolle. Die Frage ist dann nie einfach nur, wer Lärm verursacht und wer sich darüber beschwert, wer die Ursache von Lärm ist. Im US-amerikanischen Kontext kann Lärm mit Communitys der Arbeiterklasse of Color in Verbindung gebracht werden. Im deutschen Kontext mit Nicht-Deutschen (potenziellen Gentrifizierer*innen), die das deutsche Konzept der Ruhezeit nicht verstehen. Auffallend ist, dass Lärm und Gentrifizierung als soziale Probleme betrachtet werden, für die es gesetzliche Lösungen gibt.Der Begriff Gentrifizierung wurde 1964 von der deutsch-jüdischen Wissenschaftlerin Ruth Glass geprägt. 1912 als Ruth Lazarus geboren, begann sie ihre Karriere als Teenagerin bei einer radikalen Zeitung und studierte an der Universität zu Berlin. 1932 verließ sie Deutschland und zog nach London. Dort waren die britische Gesellschaft und ihre Wohnpraktiken für sie der Anstoß, um über die komplexen Bedingungen nachzudenken, die Nachbarschaften prägen. Glass verfolgte in Echtzeit, wie sich eine Gemeinde durch den Zuzug wohlhabenderer Bewohner*innen und Unternehmen rasch verändern konnte. Sie stellte fest, dass ein scheinbar einkommensschwaches Gebiet mit großem Leerstand plötzlich einen Zustrom von Menschen aus der Mittelschicht oder Wohlhabenden verzeichnen konnte, die den Immobilienwert steigerten und möglicherweise zur Verdrängung der ärmeren Bewohner*innen beitrugen. Der Begriff Gentrifizierung resultierte aus ihren scharfen Beobachtungen und ihrer wissenschaftlichen Arbeit.Seither hat er sich verselbstständigt, oft wird er auf die Verdrängung von Menschen aus innerstädtischen Vierteln angewandt, die ein niedriges Einkommen haben oder rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Herausforderung für Sozialwissenschaftler besteht jedoch darin, den Begriff nicht einfach als Waffe zu benutzen oder um bei Menschen Schuldgefühle zu erzeugen. Stattdessen sollte das Ziel sein, den Begriff als analytisches Konzept anzuwenden, um weiterreichende soziale Phänomene zu untersuchen und zu sezieren. In ihrem Buch Gentrifier (2018) fragen John Joe Schlichtman, Jason Patch und Marc Lamont Hill: „Wenn zu Unrecht erwartet wird, der Begriff Gentrifizierung könne für alles Mögliche Erklärungen liefern, wie viel verwirrender ist es dann, allen Angehörigen der Mittelschicht in nicht wohlhabenden Stadtvierteln eine implizite Identität und ein vermeintliches Motiv zuzuschreiben, das sie zu „Gentrifizierer*innen“ macht?“Für Schlichtman, Patch und Hill ist Gentrifizierung nicht nur eine Frage des Wohlstands, sondern vieler sich überschneidender Faktoren, darunter Attraktivität des Viertels, Flächennutzung, Investitionsmuster, Klasse und ethnische Strukturen. Mit der politischen Dimension des Lärms geht die Frage einher, wie genau Menschen ihn bewerten, insbesondere wenn wir herausarbeiten wollen, wann Menschen polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt werden, um den Lärmpegel niedrig zu halten.Dabei ist es wichtig, welcher Lärm gesetzlich toleriert wird. Ausgenommen von den Lärmverordnungen sind Kinder; sie können auf Spielplätzen und in Kindergärten so laut sein, wie sie wollen. In vielen Fällen tolerieren die Menschen den Lärm von Zügen oder sogar von Baustellen. Das zeigt, dass sie sich nicht an Lärm stören, wenn sie die Quelle als erwünscht betrachten – Kinder – oder meinen, davon zu profitieren. Den Lärm außereuropäischer Migrant*innen und ausländischer „Gentrifizierer*innen“ hingegen finden nur sehr wenige Deutsche akzeptabel.Die Lärmkontrolle in den Städten wurde in den USA immer wieder benutzt, um die Polizeiarbeit zu verstärken. Die Regulierung des Lärmpegels wurde von Privilegierten und der Regierung als Waffe eingesetzt, um People of Color und Menschen mit geringem Einkommen aus bestimmten Vierteln zu verdrängen. Nachbarstreitigkeiten, die Gegenstand eines direkten Gesprächs sein sollten, wurden durch immer neue Regulierungen an die Polizei oder die Justiz delegiert.Der Prozess der Verdrängung und räumlichen Ausgrenzung ist allgegenwärtig. Er ist Teil des Bildungssystems, Teil romantischer und platonischer Beziehungen, Teil der Frage, auf wen wir uns emotional einlassen. Er tritt am Arbeitsplatz auf und nach Feierabend. Was in der Debatte darüber fehlt, ist die Einbindung der Menschen aus der Arbeiterklasse oder Migrant*innen of Color, die verdrängt werden.Für Lärm spricht, dass er untrennbar mit dem menschlichen Bedürfnis nach Kommunikation verbunden ist. Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen sind auf Geräusche angewiesen, um den Abstand von Gegenständen, Fahrzeugen und anderen Menschen zu beurteilen. Für manche Menschen kann das Klicken von Gläsern in einem Restaurant oder das Geigenspiel eines Nachbarn die Konzentration erleichtern. Menschen tolerieren Lärm oft, weil das, was ihn erzeugt, für sie von Vorteil ist. Im Falle von Protesten ist Lärm Teil einer politischen Strategie, um bewusst zu stören, auf ein Problem aufmerksam zu machen und Veränderungen zu fordern. Das Problem ist weder der Lärm selbst noch sind es die Menschen, die mit ihm in Verbindung gebracht werden; das Problem ist, dass wir aushandeln müssen, wie wir in einer urbanen Soundlandschaft zusammenleben können, die für alle funktioniert.Placeholder infobox-1
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