Für Günter Gaus

Zum Geleit Gedenkworte von Egon Bahr in der Berliner St. Marien-Kirche am 25. Mai 2004

Heimkehr ist ein Wort im kirchlichen wie im weltlichen Sinn. Günter Gaus kehrt heute heim nach Berlin. In der Logik, die er so mochte, ist er an dem Ort angekommen, von dem aus er alle Fähigkeiten entfalten konnte. Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dass er ein Glückstreffer sein würde, wusste keiner, der an dieser Entscheidung beteiligt war. Er selbst zweifelte und zögerte. Das war auch verständlich; denn die Kenntnisse und Neigungen des Bundesbürgers Günter Gaus zur DDR entsprachen denen des durchschnittlichen Westdeutschen. Die Welt der Ostdeutschen war eine große Entdeckung für ihn, vielleicht ein wenig durch Nostalgie gefördert, das die systembedingte Entwicklung dort ein Stück Deutschlands bewahrt hatte, das im Westen verloren gegangen war. Den Preis der Anpassung an die Welt der Moderne haben inzwischen auch Ostdeutsche zu zahlen gelernt.

Fast ebenso bedeutsam fand er zu seinen bisherigen Talenten die Neigung zur Diplomatie, zum Verhandeln, zum Ausgleich von Interessen an der Bruchstelle feindlicher Systeme, aus denen er eine deutsche Nahtstelle zu machen half. Die Zahl der Verträge, auf die er stolz war, kenne ich schon nicht mehr. Von seiner Autobahn zwischen Hamburg und Berlin oder wichtigen Brücken werden auch in Zukunft Millionen profitieren, ohne zu wissen, welcher mühsamen Kleinarbeit sie diese heutigen Selbstverständlichkeiten verdanken. Das kostete Geld, was ihn am guten alten Rhein nicht nur beliebt machte, etwa bei Helmut Schmidt, dem der Unterschied zwischen 100 Millionen und 1.000 Millionen durchaus geläufig war.

Natürlich vertrat er die Interessen der Bundesrepublik ständig und hartnäckig und geschickt in der Hauptstadt der DDR. Aber wie alle guten Botschafter warb er um Verständnis für sein Stationierungsland auch in Bonn, ohne sich durch Missverständnisse oder Kleingeisterei beirren zu lassen. Er genoss die seltene Begabung, in der Ständigen Vertretung eine Oase zu schaffen, in der Funktionäre wie Oppositionelle ziemlich abgestufter Färbungen in gebotener Vorsicht und erstaunlicher Offenheit sprechen konnten. Er hat wohl während seiner Berliner Zeit mehr neue Freundschaften im Osten gefunden als im Westen hinzugewonnen. Durch ihn lernte ich auch Christa Wolf persönlich kennen. Günter Gaus wurde zu einem der seltenen Exemplare von Wossis.

Dazu half ihm die dritte Entdeckung. Die Liebe zur eigenen Heimat hat die Deutschen geeint. In der Anomalität der Teilung gab es diese Normalität, unabhängig von unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen. Ungeachtet, ob die Gesellschaft da individualistisch leistungsbezogen und dort kollektiv organisiert war; die Liebe zur Heimat, das Gefühl der Geborgenheit in ihr, die Verbundenheit mit ihr waren im Osten wie im Westen nicht verschieden. Dieses einigende Band wollte der Freund seinen Landsleuten nahe bringen. Das konnte nur einer, der die Liebe zur Heimat teilte, für den Verbundenheit mit dem eigenen Land eine selbstverständliche Empfindung war, ohne Sentimentalität oder völkische Gefühlsduselei.

Ein solcher Mann musste auch am eigenen Land leiden. Je länger er lebte, umso mehr. Das rührte aus seiner überragenden Eigenschaft, der Unerschütterlichkeit seines unabhängigen Denkens. Bequem war er nicht. Das wusste auch Willy Brandt, den Gaus verehrte und mit dem ihn etwas verband, was Brandt von sich selbst sagte: "Je älter ich werde, umso linker werde ich". Orientierung in den Ungewissheiten von vielfachen Umbrüchen nicht verlieren, überzeugungstreu, überlegen, wie die Dinge zum Besseren gewendet werden könnten, das führte Gaus mit ähnlich Denkenden im Willy-Brandt-Kreis zusammen und in die Herausgeberschaft des "Freitag".

1976 nahm ich als Bundesgeschäftsführer Günter Gaus in die SPD auf, einen schwierigen Mann in eine schwierige Partei in einem schwierigen Land. Dass er sich nach 25 Jahren zum Austritt entschloss, lag weniger an seiner Sorge, die SPD könne Solidarität und Gerechtigkeit zu wenig gewichten oder an der deutschen Reaktion auf den Terror als an seinem Horror vor einer Militarisierung der Außenpolitik, aus der Deutschland noch nie etwas Gutes erwachsen sei. Das Wort, dass Friede nicht alles sei, aber ohne Frieden alles nichts, interpretierten wir unterschiedlich. Dass Friede und Stabilität letztlich auch militärische Mittel erfordern, damit gegebene Garantien glaubwürdig sind, akzeptierte der Realist, wenngleich nicht gern.

Wenn man sich Preußen ohne Militarismus denkt, war Gaus ein Preuße in dem Sinne, in dem de Gaulle den Regierenden Bürgermeister Brandt fragte, was der ihm über die Dinge in Preußen zu berichten habe, womit der die DDR meinte.

Es war erstaunlich, wie der scharfzüngige Publizist, nicht ohne Lust zu geschliffener Provokation, sich zurücknahm in dem Augenblick, indem er Diener des Staates wurde. Nach Jahren des Schreibens und Sprechens wollte er handeln und etwas bewegen. Und dabei wusste er, welche Grenzen öffentlicher Äußerung ihm das Amt setzte. Umso gespannter konnte man auf seine Erinnerungen sein. Er wollte ein ehrliches Buch schreiben. Nur er verfügte über ein einzigartiges Wissen, um bisher unbekannte Vorgänge eines wichtigen Abschnitts deutscher Geschichte schildern zu können. Die präzise Erinnerung hatte Menschen und Charaktere gespeichert, ihre Schwächen und Stärken in kritischen Situationen - Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski, Wolfgang Vogel wie Helmut Schmidt und andere Bonner, die in den Beziehungen zum anderen deutschen Staat etwas zu sagen hatten. Das alles ist verloren. Was ich lesen durfte oder er vorlas, enthielt spannende Vergleiche und Überlegungen, von literarischer Qualität, mit feinsinnigem Humor gewürzt, und führte gerade bis zum Einzug ins Kanzleramt. Die Schwäche seines Körpers war stärker als sein Wille zum Leben.

Ich nehme das Wort des Bundespräsidenten auf: Günter Gaus hat sich um das Land verdient gemacht.

Adieu, Günter. Möge Dir die Erde leicht werden.


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