Gegenüber der alten Guillotine

Das deutsche Vereinsrecht führt mitunter Menschen zusammen, die sich unter normalen Umständen nie begegnet wären. Wer wollte auch schon ohne ...

Das deutsche Vereinsrecht führt mitunter Menschen zusammen, die sich unter normalen Umständen nie begegnet wären. Wer wollte auch schon ohne triftigen Grund mit Rechtspflegern und -innen in den Vereinsregistern der hiesigen Amtsgerichte verkehren oder sich auch nur auf einen grundsätzlich missverständlichen Schriftwechsel mit denselben einlassen? Aber das Vereinsrecht will es nun mal so, obgleich dies zumeist der sinnstiftenden Tätigkeit im Ehrenamt entgegensteht, Zeit und Nerven raubt.

Dass das Vereinsrecht zum Beispiel auch den persönlichen Kontakt mit Notaren vorschreibt, verschaffte mir unlängst Einblicke in ein mir bis dahin unbekanntes Biotop. Es galt, die Neuwahl eines Vorstandes beglaubigen zu lassen - ohne notarielle Beglaubigung der Identität aller Vorstandsmitglieder glaubt nämlich kein Rechtspfleger, dass die gewählten Personen auch tatsächlich existieren.

Also befragte ich freitags die Gelben Seiten nach dem nächstgelegenen Notariat. Das Vorzimmer stellte sofort durch; aktuell sei nicht viel los, hörte ich eine rauchige Männerstimme sagen, Montag um elf würden Vorstandskollege Erwin und ich erwartet. »Von-Repkow-Straße, gegenüber von der Alten Guillotine.« Diese lokale Attraktion ist nicht zu verfehlen.

Montag Punkt elf warte ich vor dem Haus, das allerdings nicht gegenüber von der Alten Guillotine steht, sondern daneben. Als Erwin atemlos gegen halb zwölf eintrifft, entschuldigt er sich: Wegen der offenkundig falschen Ortsbeschreibung »gegenüber der Alten Guillotine« sei er suchend die gesamte lange Von-Repkow-Straße hinauf- und wieder hinabgelaufen. Die Sekretärin winkt milde lächelnd ab.

Die Frau hätte Otto Dix fraglos begeistert. Sie führt uns in ein hohes Zimmer mit vergilbten Wänden, durchgetretenen Dielen und rissiger Stuckdecke: Ein riesiger grüner Marmortisch, vier alte Stühle, vor der gardinenlosen Fensterfront rechts eine Fax- und Kopierkombination der ersten Generation und links ein ebenso alter Fernsehapparat. Nirgends ein Blumentopf, nicht mal ein Kalender. Die offene Flügeltür zum noch größeren Nachbarraum lässt darin lediglich die Rückseite eines betagten Schreibtisches erkennen, unter der zwei braune Schuhe und Hochwasserhosen hervorblicken. Es riecht nach Zigarre, jemand hustet.

Ob er denn in seiner Funktion als Anwalt auch Strafrechtssachen vertrete, will Erwin, der im Ehrenamt Schöffe ist, wissen, während der dunkel Gekleidete mit dem ledrigen Teint unsere Personaldokumente untersucht. Der rollt mit den rot unterlaufenen Augen. Gott bewahre! Richter und Staatsanwälte lernten doch heutzutage nur noch die 400 Paragraphen ihres Fachgebietes auswendig, er habe dagegen an die zwanzigtausend aller Rechtsgebiete im Kopf. Ob deren allgemeiner Horizont entsprechend reduziert sei, hakt Erwin nach. Aber gewiss. Bildung und logisches Denkvermögen fehlten dort wie überall. Er habe, plaudert er freimütig, derweil die Sekretärin die Beglaubigungen in Form bringt, soeben an die Stiftung Warentest geschrieben. Warum deren Mitarbeiter immer Neues mit Neuem verglichen statt mit Altem. Früher habe man beispielsweise einen VW Polo auf der Straße ohne Zurücksetzen wenden können, heute habe der Lupo einen Wendekreis wie vor 40 Jahren die Ente!

Die Sekretärin reicht die ausgefüllten Formschreiben. Die paar Übertragungsfehler sind mit einem Federhalter rasch korrigiert, was auf den Fotokopien dank des vergilbten Papiers kaum auffällt. Jetzt bekomme er 17,40 Euro von uns. Ähm ... in bar? Er bitte darum, sagt der Mann mit einem Haste-mal-ne-Mark-Blick. Vereinssachen seien sicher nur ein Nebenschauplatz seiner Berufsausübung, mutmaßt Erwin. - Ganz im Gegenteil, er lebe maßgeblich von den etwa 300 Vereins- und Vorstands-Anmeldungen im Jahr. Kleine Kopfrechenaufgabe: Macht täglich ungefähr eine. Wir legen den Betrag passend auf die kalte Tischplatte, während er einen Quittungsblock bekritzelt. Zählend wischt er die Münzen über die Kante in ein abgewetztes Kunstlederportemonnaie, zieht die Mundwinkel leicht hin- und her und verabschiedet uns rasch, bevor er schnell die Tür zum Nebenzimmer hinter sich schließt. Die Otto-Dix-Figur geleitet uns freundlich zum Ausgang.

»Ein Glas bitte und die nächsten zwei Stunden keine Anrufe«, lästert Erwin auf der Treppe. Als wir die Haustür öffnen, sehen wir auf der anderen Straßenseite über der Eckkneipe ein blasses Schild: »Zur Alten Guillotine«. Die Ortsbeschreibung hatte also doch gestimmt.

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