ner Elektrodepesche, ich müsse dem Stamme ihrer um 1900 nach Südamerika ausgewanderten Altvordern entsprungen sein. Ihre Mutter habe ebenfalls Stedefeldt geheißen und ob denn meine Familie auch ihren Ursprung in Thüringen habe.Mein Ja brachte mir einen temperamentvollen lateinamerikanischen Jubelbrief ein: Sie sei ja so glücklich! Nun habe sie endlich den lang gesuchten Hinweis auf ihre europäischen Wurzeln gefunden. Mit Stolz erfülle sie, dass es sich sogar um eine V.I.P. handele, ich sei schließlich Schriftsteller, wie sie Hinweisen im Internet entnommen habe. Den Titel "Very Important Person" nahm ich selbstverständlich an. Der Brief endete mit der Zeile: "Lieber Eike, wir sind verwandt! Da bin ich ganz sicher!"Nun habe ich, wie so viele Leute, nicht nur gute Erfahrungen mit sogenannten leiblichen Anverwandten gemacht. Dass ich mich darauf einließ, jener Louisa dennoch Details aus meinem bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreichenden, vor über zwanzig Jahren anlässlich der sozialistischen Jugendweihe von meiner Mutter verfertigten Stammbaum mitzuteilen, war weniger der Stimme meines Blutes geschuldet. In Anbetracht meiner prekären finanziellen Situation, ließ ich mich vielmehr von praktischen Erwägungen leiten.Immerhin hatte mir Louisa mitgeteilt, ihre Traumstadt heiße New York. Einer geregelten Arbeit gehe sie nicht nach, gelegentlich helfe sie beim Management des väterlichen Unternehmens aus, während sie es den Sommer über vorziehe, sich in Ipanema aufzuhalten. Ipanema? - Im Reisebüro geriet der Angestellte in regelrechte Verzückung. Dabei handele es sich um einen Stadtteil Rio de Janeiros, und zwar den wohlhabendsten, der dortige Strand sei einer der schönsten und teuersten der Welt. Das war genau das, was mich im Moment interessierte. Augenblicklich kam mir nach dieser Eröffnung der alte Heinz-Rühmann-Film Das Haus in Montevideo in den Sinn, worin eine ehrbare deutsche Pfarrersfamilie unerwartet eben jenes überseeische Gebäude erbt, das sich schließlich als Bordell erweist. Das wäre mir nun wirklich egal gewesen. Aber vielleicht verfügten die brasilianischen Stedefeldts anstelle eines Freudenhauses über ausgedehnte Ländereien. Tabak, Bananen, Kaffee, Kakao ... Im Schlaf erschienen mir nun immer öfter von Palmen gesäumte Küstenstraßen, der Zuckerhut und eine weiße Villa mit ein paar Dutzend Bediensteten in einem parkartigen Anwesen.Kurz und gut: Diese neue Verwandtschaft bedurfte pfleglichster Behandlung. In thüringischen Standesämtern recherchierte ich fleißig nach Ahnen, belästigte örtliche Pfarrer, sie mögen doch in Taufbüchern - ersatzweise auf dem Kirchhof - nach Überresten Stedefeldtscher Schäfchen suchen. Meist waren die Ergebnisse unbefriedigend. Zwar schien allein die Tatsache, dass ich nach ihren Vorfahren suchte, Louisa für mich einzunehmen. Dennoch ließ die erhoffte Einladung auf sich warten.Irgendwann zog ich einen Joker aus dem Ärmel: Meine Ahnenforschung hatte mich auf die Spur eines thüringischen Fleischersohnes namens Hermann Bernhard Stedefeldt geführt, der 1864 im zarten Alter von 20 Jahren an der Universität zu Bonn über Plutarch promoviert hatte. Diese hochkarätige Information verfehlte ihre Wirkung nicht. Louisa nahm sie als weiteren Beweis unserer Blutsbande: Der Clan der Stedefeldts habe, wie sich zeige, einen natürlichen Hang zu Sprache, Dichtung und Philosophie. Hermann B. Stedefeldt sei schließlich ein Philologe gewesen, wie wir nun wüssten, ich wäre Schriftsteller, und sie selbst beherrsche diverse Fremdsprachen. Nebenbei fragte sie, ob ich schon einmal in Brasilien gewesen sei. Na endlich! Ich verneinte bedauernd, nicht ohne den vielsagenden Hinweis anzubringen, solche weiten Reisen seien stets eine Frage von Zeit und Geld. Darauf ging Louisa leider nicht ein.Stattdessen wollte sie plötzlich an meinem Wohl und Wehe teilhaben. Zunächst begehrte sie meine Konfession zu wissen und wie viele Kinderchen ich denn hätte. Als erfolgreicher Schriftsteller in den besten Jahren sei ich doch sicher längst glücklich verheiratet mit einer ganz reizenden Frau ... Einem erfolgreichen Schriftsteller wäre sicher eine schöne Story eingefallen, um sie Louisa aufzutischen. Als Arbeitsloser in den besten Jahren behalf ich mir einstweilen mit einem kryptischen: "Wer seinen Beruf ernst nimmt, muss Opfer bringen." Ich hatte das Gefühl, dass sie mich aufrichtig bedauerte. Welchen Inhalts denn übrigens meine Bücher seien? Obacht, dachte ich mir, wenn die gute Louisa stockkatholisch ist, kannst du dir deinen billigen Urlaub, wenn nicht eine ganze Hacienda getrost in den Südwind schreiben. "Liebesgeschichten" ließ ich also lakonisch wissen. Das war nicht im eigentlichen Sinne gelogen. Louisa zeigte sich zufrieden und gab an, sie würde ja auch ganz gern mal wissen, wie es sich so lebt in Deutschland. Kalt sei es, schrieb ich sehr literarisch und bedeutungsvoll, unerträglich kalt und ungemütlich, die Menschen hierzulande wären geldgierig, egoistisch, rücksichtslos und besäßen nicht annähernd die Herzlichkeit, Güte und Gastfreundschaft wie in südlichen Gefilden. Nur zu gern brächte ich möglichst viel Wasser zwischen mich und diese Menschen, am besten einen Ozean ...Wochenlang erhielt ich keine Post. Dann schrieb Louisa, es habe reichlich Aufregung gegeben zu Hause. Dem Vater habe man den Verkaufswagen gestohlen, mit dem sie während der Sommersaison unten am Strand von Ipanema gestanden und ihren Lebensunterhalt bestritten hätten. Für diplomierte Literaturwissenschaftlerinnen wie sie fände sich derzeit auch nirgends Verwendung, nur mit Mühe sei es ihr gelungen, eine Fließbandarbeit bei Coca Cola zu finden. Mit diesem Job werde sie wohl im Leben nie nach New York kommen. Zu alledem hänge der familiäre Segen ziemlich schief, weil sie nicht bloß sich weigere, Sonntags in die Kirche zu gehen, sondern mit ihren 37 Jahren noch immer unverheiratet, also unversorgt und kinderlos sei.Aus der brasilianische Traum! Der Strand von Ipanema weiter weg als je zuvor und statt dessen eine abgebrannte Verwandte, deren Stimme des Blutes sich von denselben praktischen Erwägungen stimulieren ließ wie meine. - Aber das bei weitem Unerfreulichste an der Angelegenheit: Wahrscheinlich würde auf meinem Grabstein, sofern überhaupt Geld dafür übrig bliebe, dereinst nicht mal mehr stehen können: "Hier ruht der letzte Stedefeldt."