Die Serie um Isaac Sidel ist nicht irgendeine Krimiserie, und Isaac Sidel ist nicht irgendein Cop. Ja, er ist auch schon lange kein Cop mehr, obwohl er die Glock noch immer im Hosenbund trägt – jene Waffe, die zugleich Insignie seiner Unbeirrbarkeit ist, wie sie natürlich seinen Forderungen Nachdruck verleiht. 1974, als alles anfing, war Sidel tatsächlich noch ein jüdischer Polizist in New York. Damals war die erzählte Gegenwart mit der Erzählgegenwart noch im Lot.
Seitdem ging es mit Sidel immer nur aufwärts, im vierten Band ist er dann schon der Chef der Polizei von New York. Hier, jetzt, im elften Buch der Serie, wird er zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, lebt im Herzen noch in der Bronx, sitzt tief in der Mafiageschichte von New York und soll jetzt ins Weiße Haus, wobei ohnehin alle Welt ganz zu Recht damit rechnet, dass der gewählte Präsident Michael J. Storm seinen Job wegen mancher Skandale gar nicht erst antreten wird – und dann ist Isaac Sidel, der Held Jerome Charyns, endgültig der mächtigste Mann der ganzen Welt.
Unterdessen ist die Zeit fast stehengeblieben. Die Gegenwart dieses jüngsten Romans sind die späten achtziger Jahre, die Zeit des Erzählers und die seiner Welt sind im Lauf der fast vierzig Jahre immer weiter auseinandergetreten. So sind zwischen dem Erscheinen des vorigen und des jetzigen Sidel-Romans 13 Jahre vergangen, während die Handlung ans Vorangegangene unmittelbar anschließt. Das ist anders und mehr als nur in einem einfachen Sinne erratisch. Sehr bewusst nämlich arbeitet Charyn in den Sidel-Romanen daran, alle Eigenschaften des gewöhnlichen Kriminalromans über die Grenzen, aus den Fugen, jenseits aller Erwartungen und realistischen Plausibilitäten zu treiben. Normalzeit wird mythische Zeit, wie aus den Figuren längst Mythen geworden sind, die freilich äußerst lebendig in sehr konkreten amerikanischen Milieus und Stadtlandschaften wandeln.
Mythisches Erzählen heißt: Es ist von der Last aller Wahrscheinlichkeiten befreit. Liebe ist maßlose Liebe, Politik ist Intrige auf Leben und Tod, Liebe und Intrige schließen einander nicht aus, die frühere Zeit ragt mächtig ins Heute. Die mythische Zeit, die hier herrscht, ist aber in quecksilbrigen Aggregatzuständen verfasst, in denen nichts auch nur eine Sekunde stillsteht. Es ist vielmehr so, dass in diesen Romanen hinter jeder Ecke, auf jeder Seite, aus dem Nichts, wenngleich aus niemals heiterem Himmel etwas heranspringen kann und auch tatsächlich heranspringt, die Waffe in der Hand, den Wahnsinn im Blick und zu allem entschlossen.
Obsession für eine Figur
Mythische ist fiebrige ist erratische Zeit, die in Unter dem Auge Gottes andererseits mit etwas beinahe Urweltlichem konfrontiert wird: dem Ansonia Building im Herzen Manhattans. Hier lebte einst die historisch reale Figur des Mobster-Königs Arnold Rothstein. Er ist tot, aber das Ansonias und Rothsteins Geist und vor allem sein inzwischen auch uralter Schüler und Nachfolger David Pearl im Obergeschoss des Gebäudes sind mehr als lebendig – diesen Pearl hat Charyn aus der Schöpfungsvollkommenheit des geübten Mythomanen im Übrigen frei und überlebensgroß erfunden, aber in dieser Welt, in der Fantasie und Realität gleichursprünglich sind, spielt der Unterschied keine Rolle. Die Obsession für eine Figur, die, wie vergangen und tot auch immer, als höchst mitlebend vorgeführt wird, gehört zur Methode: Im Vorgänger war alles in Isaak-Babel-Bezüge getaucht, hier wird nun das Ansonia Building zum Schauplatz einer Gigantomachie, in der die Vergangenheit mit der Gegenwart Körperkontakt hat, in der die einstige Geliebte Rothsteins in einer jüngeren Frau wiederaufersteht und in der zwischen liebevollem Erinnern und kalter Mordlust nicht einmal ein Handumdrehn liegt. Vor oder eher in dieser Kulisse tobt ein Geländekampf um die Bronx, prallen die politischen Kräfte von links und von rechts aufeinander, wobei man im dabei aufgwirbelten Staub das eine vom andern und oben von unten so ohne Weiteres nicht unterscheiden kann, und als Isaac Sidel in San Antonio, Texas, Licht in Dunkelmännergeschäfte zu bringen versucht, kommt er fast ums Leben.
Atemberaubend lakonisch
In Charyns Romanen ist amerikanisch-jüdische Wirklichkeit teils zur Kenntlichkeit entstellt, teils einfach nur irre. Besiedelt ist diese Welt mit Figuren, die man nicht glaubte, würden sie einem nicht in diesem atemberaubenden Tempo und in einem Ton lakonischster Selbstverständlichkeit erzählt. Zum Beispiel ist da die von allen verehrte zwölfjährige Tochter Marianne des neuen Präsidenten, die ihren Vater aber verachtet und sich ganz auf die Seite Isaac Sidels schlägt. Ein Serienkiller, eine Ex-Stripperin mit silbernem Haar, ein Geheimdienstchef, die texanischen Grundstücksmobster – alle zusammen haben sie Auftritte, Abtritte, tauchen auf und verschwinden, die große Politik mittendrin, ohne dass sich das je zu einem Plot im engeren Sinne beruhigte.
In früheren Büchern der Serie spielte Sidels Tochter Marilyn eine wichtige Rolle – Marilyn the Wild von 1976 ist unlängst in einer Comic-Fassung erschienen (erst in Frankreich, jetzt auch auf Deutsch). Wie ja Charyn ein Leben als Autor auch jenseits der Serie um seinen jüdischen Cop, Deputy Chief, Commish, Bürgermeister und Vizepräsidenten Sidel hat. Als Comic-Szenarist ist er in Frankreich ebenso wie als Autor bekannt und vielfach ausgezeichnet, in Frankreich ist in diesem Jahr auch eine Charyn-Biografie erschienen. Movieland heißt sein Mythenbericht zur Hollywoodgeschichte, eine Liebeserklärung an Marilyn Monroe schließt daran an. Außerdem ist er ein Tischtennis-Freak, auch dazu gibt es ein Buch. Kurzum: Es gibt viele Gründe, eine ambitionierte neue Reihe mit dem Titel „Penser Pulp“ (diaphanes) mit einem Werk des lebenden Klassikers Jerome Charyn zu eröffnen.
Unter dem Auge Gottes
Jerome Charyn Jürgen Bürger (Übers.), diaphanes 2013, 256 S., 16,95 €
Ekkehard Knörer ist Herausgeber und Redakteur der Filmzeitschrift Cargo
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