Für Sekunden sieht man Anders nur als verschwommene Silhouette vor dem präzise fokussierten Stadthintergrund. Dann zieht die Kamera den Mann im Vordergrund scharf, die Stadtszenerie tritt zurück, die Verhältnisse stimmen nun wieder: Der Protagonist im Zentrum des Spielfilms, und der Raum ist vor allem Raum, durch den er sich bewegt. Dass aber Joachim Trier beides will, und das eine (die Figur) nicht vom anderen trennt (der Stadt), sagt schon der Titel, der nicht den Helden nennt, sondern Ort und Zeit: Oslo, 31. August. Noch deutlicher ist der Prolog, der historische Aufnahmen der norwegischen Hauptstadt zeigt, als Voiceover hört man Stimmen, die sich an frühere, an prägende Erlebnisse erinnern, kein Solo, sondern ein anonymer nostalgischer Chor, der etwas von der Suche nach der verlorenen Zeit flüstert.
Verlorene Zeit ist auch das, was Anders umtreibt. Er ist 34, stammt aus bester Familie und ziemlich intellektuellem Milieu. Vielversprechende Anfänge als Journalist. Die letzten Jahre aber hat er als Junkie verbracht, Alkohol, Ecstasy, Heroin, alles. Jetzt ist er in der Entzugsklinik, kurz vor der Entlassung, clean, aber der Wille zum Leben ist gebrochen. Da macht Regisseur Joachim Trier kein Geheimnis draus und führt Anders gleich über einen zum Scheitern verurteilten, geradezu grotesken Selbstmordversuch ein. Mit einem schweren Stein in den Händen geht er ins Wasser, taucht unter und natürlich taucht er japsend auch wieder auf.
Anders hat einen Tag Ausgang für ein Jobinterview. Er nutzt die Gelegenheit, durch Oslo zu flanieren und alte Freunde aufzusuchen. Der Casanova Thomas ist Familienvater geworden, und dass das nicht sein Lebensziel war, wird in den Gesprächen der beiden schnell klar. Im Kreis der Familie zu Tisch, ein Bier beim Mittagessen, das ist jetzt das Höchste der Gefühle. Dann gehen sie raus, sitzen auf Bänken im Park. Als geglückt betrachtet Thomas das eigene Leben nicht; er ist angekommen, aber nicht da, wo er wollte.
Anders’ recht deutlich geäußerte Absicht, sich das Leben zu nehmen, setzt Thomas erst Floskeln, dann verzweifelten Sarkasmus entgegen. Dies offene Gespräch unter Männern, in dem sie über gescheiterte Hoffnungen reden, ist toll. Nicht, weil es das etwas überdeutlich ins Zentrum gestellte Thema des Films illustriert – die Jugend ist vorbei, wir nähern uns der Mitte des Lebens und kaum einer unserer „Knabenmorgen-Blütenträume“ (Goethe) ist gereift –, sondern weil der Schmerz intensiv, intim, offen ausgesprochen und somit spürbar wird. Ein Verdienst nicht zuletzt von Anders Danielsen Lie, den Trier für seinen ersten Spielfilm Reprise (2006) entdeckt hatte, der danach ein paar Rollen spielte, daneben Medizin studierte und nun Arzt und nicht Schauspieler werden will. Er spielt diese Figur ungeschützt, mit flackerndem Blick und doch viel Understatement. Wo der Film selbst an allen Ecken und Enden ein bisschen zu viel will, da tut Anders Danielsen Lie erfreulich wenig genug.
Der Tag wird für Anders noch lang. Trier und sein Ko-Drehbuchautor Eskil Vogt haben sich ein Stationendrama für ihren Helden ausgedacht – übrigens frei nach dem Lebensüberdruss-Roman Das Irrlicht des später faschistischen Autors Pierre Drieu de la Rochelle von 1931, von Louis Malle 1963 schon einmal verfilmt. Die nächste Station im Überdrussdrama: Das Jobinterview bei einer halbwegs hippen Zeitschrift. Es läuft schief, aber gar nicht so, wie man denkt. Der Chefredakteur wirkt durchaus interessiert – Anders sabotiert die Sache mutwillig selbst. Es folgt ein Treffen mit der Freundin seiner Schwester. Die will ihn nicht sehen. Die Eltern verkaufen das Haus, der Sohn und seine Sucht haben sie fast ruiniert. Konfrontation mit all den Leben, die Anders als Junkie aus dem Lot gebracht hat. Wenn einer sich selbst zerstört, bleiben im Umfeld eine Menge Kollateralschäden zurück. An erster Stelle Iselin, die Ex-Freundin. Ihr spricht er auf die Mailbox, einmal, zweimal, dann nimmt er alles zurück. Sie meldet sich nicht.
Anschlüsse an früher
Später sitzt Anders im Café, hört den Gesprächen am Nachbartisch zu und malt sich das Leben aus von einer, die vorübergeht. Hier verlässt der Film einmal das strikt naturalistische Register, nimmt den höchst präsenten Protagonisten aus dem Bild, um radikal in seine Subjektive zu gehen, mit der er sich das Leben der Anderen vorstellt. Dann eine Party, durch die er sich als Zombie bewegt, Gespräch auf dem Balkon mit einer Freundin von früher, ein Kuss geht ins Leere. Anders findet Anschlüsse ans alte Leben, eine Abschiedstour, geradezu gewaltsam verbaut er sich seine Chancen. Es ist Nacht, der Dealer von früher betreibt sein Geschäft noch, es wird Tag. Anders setzt sich eine Spritze und legt sich zu Bett.
Epilog: Bilder von Plätzen in der Stadt, auf denen Anders zuvor unterwegs war, verlassen nun, leer. Oslo, 31. August: das Leben geht weiter, und das Fehlen eines Einzelnen bemerkt nur, wer ihn kannte.
Oslo, 31. August Joachim Trier 94 Min.
Ekkehard Knörer ist Mitherausgeber der Zeitschrift Cargo und Redakteur des Merkur
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