Kein Telefon klingelt

Kino In seinem neuen Film „Grain – Weizen“ vertraut Semih Kaplanoğlu mehr auf schale Weisheiten als auf seine eigenen Bilder
Ausgabe 17/2018

Vor acht Jahren hat Semih Kaplanoğlu mit seinem Film Bal – Honig den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Es war der Abschluss einer Trilogie, die der Biografie eines Dichters namens Yusuf aus dem Istanbul der Gegenwart in die Vergangenheit und nach Anatolien folgte. Im Verlauf der drei Filme hatte Kaplanoğlu seine Ästhetik einer Konzentration auf das Bild immer weiter verfeinert, in dem die Welt ohne symbolische Verrätselung rätselhaft scheint. Das Erstaunliche daran: dass und wie sich in den langen, dunklen, sich zögernd entfaltenden Kompositionen das Verhältnis von Mensch und Natur und Wirklichkeit in Schönheit erschließt. Bal – Honig erzählte die Geschichte eines späteren Lyrikers, der unter großen Anstrengungen zur Sprache kommt: der vom Stottern zum Gedicht findet, ein Gewinn, mit dem ein Verlust kontrastiert. Das geradezu symbiotische Verhältnis Yusufs zur Natur geht ihm mit dem Gewinn der flüssigen Sprache verloren.

Auch in Grain – Weizen, dem lange erwarteten Nachfolge-Film des Berlinale-Gewinners, steht wieder ein einzelner, grübelnder Mann im Zentrum: der Wissenschaftler Erin, gespielt vom französischen Schauspieler Jean-Marc Barr. Aber nicht in die Vergangenheit und nach innen geht diesmal die Fahrt, sondern in die Zukunft und nach außen. Grain – Weizen ist Science-Fiction – und zwar der dystopischen Art. In einer Stadt zusammengepfercht leben Massen von Menschen, und sie können diese Stadt nicht verlassen. Ein Sperrzaun aus Säulen, die jeden, der durchwill, mit Stromstößen grillen, verhindert die Flucht.

Kaplanoğlu zeichnet durchaus auch technische Details seiner zukünftigen Welt, nimmt mehr, als man es von einem klassischen Arthouse-Regisseur seines Schlags erwarten würde, die Topoi des Genres recht ernst. Datenhandschuhe gibt es, fremdartige Autos, Special Effects, Überwachungsdrohnen ziehen ihre Bahnen am Himmel, zugleich bleibt jedoch in Sachen Verortung und Politik das meiste im Vagen.

Heilige Einfalt

Der Schurke im Hintergrund sind Monsanto-artige Firmen, die mit genetisch veränderten Samen die Lebensmittelproduktion des Planeten an den Rand des Untergangs geführt haben. Für eine solche Firma arbeitet auch Erin, der die eigentlichen, spirituellen Gründe der Krise erkennt. So macht er sich auf die Reise.

Gedreht ist das alles all over the place: im Ruhrgebiet manche städtische Szene (es steckt viel deutsches Fördergeld in diesem Film), in Detroit die Ruinen, durch die der Film sich bewegt, bevor er die Stadt dann verlässt und in den menschenleeren Weiten Anatoliens zur Ruhe kommt.

Die Bilder sind samtig schwarz-weiß, von edler Anmutung, stets auf kompositorischen Effekt kalkuliert. Kameramann ist Giles Nuttgens. Er liebt in Innen- wie Außenräumen den langsamen seitlichen Schwenk und die langsame seitliche Fahrt, die in immer ähnlicher Weise mal die beweglichen Schränke einer Bibliothek, mal verfallene, verlassene Häuser, mal die riesigen Felder aus Weizen und mal auch die zerklüftete Landschaft Anatoliens erfassen.

Das will, mit mehr oder weniger Erfolg, aufs Atemberaubende hinaus, ebenso wie mehrfache Draufsichten, die das Geschehen am Boden aufs Ornament reduzieren. Mit einer solchen Auffahrt, einem Blick, der mit dem Gottesblick konkurriert, endet der Film, so konsequent wie in seiner schrecklich simplen Botschaft fatal. Der Held – und mit ihm auch die Welt – ist erlöst.

Denn darum geht es: eine klassische Heldenreise, in der sich innere und äußere Krise verschränken. Erin verlässt die Stadt mithilfe einer Lotsin, die – wie allzu vieles in diesem Film – an eine ähnliche Figur aus Andrej Tarkowskis Stalker erinnert. Übergroß steht dieses Vorbild, Bild für Bild fast, im Raum. Die Welt vor der Stadt ähnelt der „Zone“ in Stalker, schon die Flucht durch den elektronischen Sperrzaun adaptiert die Pfadsuch- und Pfadfinde-Steinwurfmethode bei Tarkowski. Ein Telefon immerhin klingelt nicht.

Draußen sucht Erin, der Wissenschaftler als Held, einen anderen Wissenschaftler als Helden namens Cemil (Ermin Bravo), der einst bei derselben Firma angestellt war, dann aber ins Spirituelle desertierte. Cemils Tochter lebt noch in der Stadt, Erin sucht sie auf, sie trägt einen seltsamen Umhang, und Erin wird aber aus den keilschriftartigen Buchstaben auf der elektronischen Tafel so wenig schlau wie aus dem Kauderwelsch, in dem sie mit ihm spricht.

Erin findet Cemil, und auch sie sprechen manches Wort. Pseudowissenschaftliches Geklingel, aber vor allem geht es um die große Verbundenheit aller Dinge, darum, dass, was dem kleinsten irdischen Pflanzensamen getan wird, auch dem Menschen geschieht. Die Dialoge des Films sind von einer immer wieder haarsträubenden heiligen Einfalt. (Manchmal ist es fast wie bei Herbert-Reinecker-Derrick selig: „Dann enthält alles ein Partikel vom Menschen?“ – „Das menschliche Partikel.“ – „Das menschliche Partikel.“)

Das eigentliche Scheitern von Grain liegt aber darin, wie Kaplanoğlu hier bei aller Oberflächenähnlichkeit zu seinen früheren Filmen deren ästhetisches Programm schnöde verrät. Denn in seinen früheren Filmen hat Kaplanoğlu darauf vertraut, dass sich in den einzelnen Sequenzen eine Evidenz einstellt, die ganz aus dem Bild, dem Licht und der Form und der Zeit heraus entsteht. Die Bilder hier sind oft schön komponiert, aber es fehlt die Geduld, der Kraft der Bildfindung zu vertrauen. Der Film ist langsam, aber nicht langsam genug. Und früher oder später wird man wieder mit schalen Weisheiten über Weltall, Weizen und Mensch zugequatscht.

Info

Grain – Weizen Semih Kaplanoğlu TUR/D/F/SWE/QAT 2017, 123 Minuten

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ekkehard Knörer

Redakteur Merkur und Cargo.

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