Im Rahmen des weit aufgefächerten filmischen Werks von Alain Resnais gehört Ihr werdet euch noch wundern (im Original: Vous n’avez encore rien vu) in den Sonderforschungsbereich „Theater und Film als einander entgrenzende Künste“. Der Film geriert sich nicht in derselben Weise wie Mélo (1986) als Bühnenstück, aber er nimmt ein Stück –Anouilhs Eurydike-Modernisierung von 1941 –, inszeniert und zerlegt es mit filmischen Mitteln. Er nimmt es als Material und treibt damit seine Spiele. Wie immer, wenn Resnais spielt, bleibt, gegen den oberflächlichen Anschein, kein Stein auf dem andern. Das Theater als Dispositiv wird sich fremd in der Begegnung mit dem Kino, der Resnais es aussetzt. Zugleich ist die Frage, ob in dieser Anordnung das Kino noch weiß, was es ist.
Zu Beginn steht ein Anruf. Der ereilt berühmte Schauspieler in Serie, die alle beim richtigen Namen genannt werden: Lambert Wilson, Pierre Arditi, Anne Consigny, Mathieu Amalric, Anny Duperey, Michel Piccoli, Michel Vuillermoz, Hippolyte Girardot, Jean-Noël Brouté, Michael Robin, Gérard Lartigau, Jean-Chrétien Sibertin-Blanc, Sabine Azéma. Der Anrufer spricht immer dieselben Sätze: „Ich habe Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihr Freund Antoine d’Anthac ist gestorben.“
Film im Film
Es geht nach Peillon in der Provence. In diesem malerischen Bergdorf hatte d’Anthac seinen nicht minder malerischen Wohnsitz auf schroffem Fels, dem Himmel recht nahe. Ein Freund des Verstorbenen, der Anrufer und Nachlassverwalter, empfängt, draußen ist Sturm, die eintreffenden Gäste. Die Natur im Hintergrund wie gemalt, weil gemalt. Die Musik von Mark Snow imitiert klassisch Sinfonisches so süßlich wie meta, kann aber auch anders. Tür auf, Tür zu, mit steter Musikmotivwiederholung: eine Schleuse. Man umarmt sich als Trauergemeinde im Vestibül, kennt sich, hat zusammen in d‘Anthacs Inszenierungen von Eurydice gespielt, wie Anouilhs Bearbeitung des Mythos heißt. Jetzt geht es um den letzten Willen. Im Saal nehmen sie Platz, an der Stelle der Leinwand ein Bild, man sieht darauf das Bergdorf Peillon.
Nun, da alle präsent sind, just im Moment, da sie sitzen, aber bevor der Nachlassverwalter spricht, bevor sich der Vorhang öffnet, bevor keine Leinwand, sondern ein großer Bildschirm erscheint, bevor Antoine d’Anthac aus einem digital aufgezeichneten Jenseits sich an die versammelte Trauergemeinde zu richten und die Zuschauer als Erben zu adressieren beginnt, bevor ein Film folgt, der d’Anthacs letzte Inszenierung, Eurydice von Anouilh, als Videoaufzeichnung bringt – bevor diese eigentliche Erzählung sich zuträgt, blendet von einer anderen Zeigeposition aus der Film den folgenden Satz ein: „Als sie die Brücke überquerten, kamen die Phantome, sie zu treffen.“ Das ist in Form und Tat ein Stummfilmzitat, und zwar buchstäblich, aus Murnaus Nosferatu. Nicht jeder ist so tot, wie er scheint.
Dann geht es los. Das Theaterstück in der Videoaufzeichnung beginnt. Die Schauspieler im Raum sind zunächst in der Zuschauerrolle: Sie sehen den Abwesenden zu, die auf keiner Bühne, sondern in einem aufgelassenen Depot Eurydice spielen. Inszeniert hat das Stück im Film Bruno Podalydès, der den Antoine d‘Anthac darstellt. Es ist eine ahistorische Inszenierung, junge Darsteller in heutiger Kleidung, Gegenstände auf der Bühne, die man im Depot, nicht in der Welt Anouilhs erwartet. Podalydès hat auch den Film gedreht, die Aufzeichnung, die mit filmischen Mitteln arbeitet, Schnitten, unterschiedlichen Einstellungen und so weiter. In Resnais’ Film dringt also ein anderer Film ein, als erwünschter Fremdkörper freilich; wie auch Podalydès in seiner Arbeit einen Fremdkörper auf der Bühne präsent hält: ein Foucault’sches Pendel, das unaufhörlich den Raum der Inszenierung durchschneidet.
In einem ersten Schritt der Dispositivkomplizierung springt die Inszenierung des Films auf die Schauspieler als Zuschauer über. Sie sprechen den Text mit, den sie kennen, an den sie sich erinnern, wie sie sich auch daran erinnern, ihn in d’Anthacs Inszenierung gespielt zu haben. Das Stück springt über als Text, der erst nur wiederholt wird, sich dann zu verselbstständigen und von den Vorgaben und dem Nachsprechen zu lösen beginnt. Auch die Körper beleben sich, sie interagieren. Die Kamera ist ihnen dabei in Großaufnahmen und verbindenden Schnitten behilflich. Hic sunt Gespenster. Sie leben.
Neun Uhr schlug es nie
Die Ablösung des (Resnais-)Films vom (Podalydès-)Film geschieht Schritt für Schritt, wie sich bis zum Ende keine Lage der medialen Dinge je ganz verfestigt. Nie rasten die Verhältnisse ein, stets wird eine Umdrehung weiter gedacht. Erste Aktivierung der Körper: Sie lösen sich von den Sesseln. Es stehen sich Sabine Azéma und Pierre Arditi gegenüber, erinnern und sprechen den Text und spielen das Stück. (Und es ist klar, dass sich der Resnais-Zuschauer nun erinnert, an Smoking/No Smoking von 1993 etwa, den Film, den die beiden allein trugen.) Alles ist verzaubert von Kameramann Éric Gautiers Licht. Es fällt weich und künstlich aus verborgener Quelle und setzt nicht nur das rote Haar Sabine Azémas fast in Brand. Die Farben sind märchenhaft satt. Die Schloss-, eher Burg-Architektur gibt ihr Artifizielles dazu, die bunten Ziersäulen, der Säulengang an der Wand, dann die Erweiterung des Raums ins Imaginäre.
Der Zuschauerraum öffnet sich. Er hat Türen. Was dahinter liegt, scheint, sobald ein Darsteller eintritt, sobald die Kamera ihren Blick wirft, erst zu erstehen. Trotz Öffnen und Schließen der Türen ist eine Kontinuität kaum zu denken. Die Tür, die Schleuse: Sie verbindet hier zusammenhanglos. Ein Bahnhofsraum, wie es Anouilhs Eurydice vorsieht, vasarelyhaft schwarz-rote Rauten bilden den Boden. Der Tresen, die Fenster, der Zug, der vor dem Fenster vorbeirauscht: All das sieht aus, wie in digitaler Postproduktion hinzugefügt. Die Darsteller interagieren mit dem Raum ohnehin wenig. Sie haben Augen nur für einander, in wechselnder Besetzung der Rollen. Der Schauspielstil ist emphatisch, das theaterhaft virtuose Agieren zielt nicht auf Distanzierung und Brechung, sondern auf Affekt und Involvierung.
Die vergangenen Inszenierungen beginnen sich ihrerseits als erinnertes Spiel und erinnerter Text und als erinnerte Beziehungen zwischen den Darstellern zu durchdringen. Resnais entwickelt dafür rhetorische Figuren und Tropen der Ersetzung und Dopplung, der Erinnerung und der Erfindung im Bild: eine Tapetentür erscheint und verschwindet, der Splitscreen räumt den Zwischenraum weg und setzt die Figuren in dieselbe gespaltene Einstellung. Was nicht nur etwas Melancholisches, sondern auch etwas Komisches hat, haben soll: zwei Inszenierungen derselben Szene, doppelte Erinnerung, einmal mit Lambert Wilson, einmal mit Pierre Arditi, der Mann, der den Kellner spielt, bleibt derselbe. Aufgehoben ist natürlich die Zeit, an der Wand eine Uhr ohne Zeiger. Eine andere filmische Geste: ein jäher Zoom mit anschließender Kreisblende, Fokussierung auf die Einzelperson, Festhaken an der Subjektive, die Erinnerung triggert.
Es geht durch die Akte hindurch immer wieder „zurück“: in die Gegenwart der erbarmungslos weiterlaufenden Podalydès-Aufzeichnung der Podalydès-Inszenierung, damit auch in die Gegenwart der seltsamen Nachlassversammlung. Die Schauspieler sitzen da wieder, sie sitzen da weiter. Man hat sich das Spiel, die Aktivierung der Körper, die Erinnerung und Wiederaufnahme, die Durchdringung der vergangenen Spiele, man hat sich die eröffneten Räume, all das hat man sich als Imagination vorzustellen. Was zuletzt dann geschieht, hat freilich keinen zwischen real, erfunden, erinnert zu verortenden Modus und Status. Es geht ins Freie. Hinaus, auf die Straße, in die Natur. „Neun Uhr genau“, sagt eine Stimme. Aber das „neun Uhr“, von dem er spricht, gibt es in dieser Wirklichkeit nicht. Es ist ein „neun Uhr“ des Theaters, des Films, der Erinnerung und des Nachlebens. Ein „neun Uhr“, das es nie schlug, ein „neun Uhr“, das bleibt. Orpheus hat Eurydike wieder. Enfin. Schwenk in den Himmel.
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