Wasserfarbstill

Klassiker „Belladonna of Sadness“ von 1973 ist ein Animationsfilm wie kein zweiter. Er kommt neu ins Kino
Ausgabe 35/2016

Die Geschichte des 1973 entstandenen und jetzt in digitaler Restaurierung wiederaufgeführten Anime Belladonna of Sadness kann man so rum und so rum erzählen. Nämlich so, dass der Film solide und fast schon langweilig klingt. Oder so, dass er als das exzessive Meisterwerk erkennbar wird, das er ist. Ich fange langweilig an.

Es liegt das Buch eines Historikers zugrunde. Das stammt aus dem Jahr 1862, es heißt La sorcière, also Die Hexe. Geschrieben hat es Jules Michelet, in Frankreich eine Legende, vor allem als Verfasser einer riesenhaften, in einem präzisen, energischen Stil verfassten Geschichte Frankreichs, die bis heute nicht vollständig ins Deutsche übersetzt ist. Roland Barthes hat über ihn eines seiner ersten Bücher geschrieben. Zentrale Kategorie seines Werks ist das Volk, Michelet war scharf antiklerikal und blieb ein unbedingter Befürworter der Französischen Revolution.

Antiklerikal, revolutionär ist auch die Stoßrichtung seines Buchs über die Hexe. Der Sex, die Rituale, der Bund mit Erde und Geistern – das ist die Form des Kampfs des einfachen Volks und im einfachen Volk der Frauen gegen die Mächte von Kirche, Obrigkeit, Männern. Für Michelet ist die Hexerei die Widerstandskraft, die den Keim der Renaissance, der Wissenschaft in sich trägt. Sie kleidet sich in die Gestalt von Wahn und Halluzination, weil in den Formen des täglichen Lebens der Ausdruck eines Anderen der mittelalterlichen Vernunft unmöglich bleibt.

Es kann für einen Anime-Künstler im Japan der frühen 70er Jahre nicht über die Maßen nahegelegen haben, einen Film auf der Grundlage dieses Buchs zu drehen. Noch dazu einen Spielfilm, der aus dem historischen Material einen narrativen Faden zu spinnen versucht. Naturgemäß ist die Verfilmung darum sehr frei. Der narrative Faden ist wild verzwirbelt, mal im Blick, dann verschwindet er oder löst sich auf im psychedelischen Treiben, das in Belladonna of Sadness veranstaltet wird. Alles in allem ist er nicht wichtig, ist fast egal, es geht um die Bilder, den Wirbel der Formen und Farben, die frei drehende Bewegung, den Free Jazz dazu, der das Geschehen so aus allen tonalen Erdungen löst, wie die sich entgrenzenden Körper, Umrisse, Formen die reale Welt weit hinter sich lassen.

Bilder abfahren

Eiichi Yamamoto hat einen Anime gedreht, wie es keinen anderen gibt. Man kann Avantgarde dazu sagen, wobei Yamamoto und erst recht Osamu Tezuka, von dem das Konzept stammt, alles andere sind als marginale Figuren in der Geschichte des japanischen Animationsfilms. Tezuka ist vielmehr der Gott des Anime wie des Manga, der mit seinen Werken von Astro Boy über Kimba bis zu Metropolis und zum Historienmanga Adolf unzählige Animationskünstler in Japan geprägt hat. Und Yamamoto war an der filmischen Umsetzung vieler Tezuka-Stoffe beteiligt. Belladonna ist der dritte Teil einer Trilogie, zu der noch 1001 Nights und Cleopatra gehören. Ein Erfolg war sie nicht, Tezukas Produktionsfirma Mushi war, als Belladonna – der im Wettbewerb der Berlinale lief – in die Kinos kam, so gut wie bankrott.

Der Film leugnet nicht die Herkunft seines Stoffs, der Motive, der Kultur aus Europa. Jean und Jeanne heißen die Protagonisten, dass Jeanne d’Arc dabei mehr als nur angespielt ist, das findet bei Michelet seinen Halt. Am Ende sieht man das ikonische Bild von Delacroix. Die Aneignung des Stoffs lässt das Fremde daran stehen. Der Zeichenstil hat mit den Mangas und Animes, die man kennt, mit ihren ethnisch schwer zuzuordnenden Kindchenschema-Gesichtern rein gar nichts zu tun.

Aber wie beschreibt man, was man in diesem Film sieht? Wasserfarbzeichnungen sind das eine. Sie sind ganz oft nicht animiert. Vielmehr fährt die Kamera über das Bild, Jeannes Körper, sie fährt nach oben, zur Seite, sie zeigt die Mächte des Dorfs in Gruppenaufstellung. Jeanne liebt Jean, Jean liebt Jeanne, aber Jeanne wird vergewaltigt vom Fürsten, ihr Körper entzweigerissen, zerfetzt, blutrote Szenen.

Augen weiden

Sie flieht und wird, Halluzination oder nicht, bedrängt von einem penisförmigen Satan, so polymorph gestaltwandelnd wie vieles im Film, der voll mit Vulvischem, Phallischem, Animalischem, Menschlichem, Pflanzlichem ist, das eine geht ins andere über, alles ist in ständiger Metamorphose, angetrieben von der psychedelischen Musik des Komponisten Masahiko Satoh, die gegen die Bilder taumelt und ihnen doch Halt gibt. Pornografisch ist der Film sicher nicht. Aber sehr explizit.

Jeanne verlässt das Dorf, wird ausgestoßen, in Aushandlung mit dem handsamen satanischen Penis transformiert sie die Verletzung in Widerstandskräfte. Sie wird zur Steuereintreiberin, von der die Bewohner des Dorfs abhängig sind – und weckt damit erst recht den Hass des Fürsten. Aber eigentlich ist das schon zu viel Faden der Narration. Denn im Film reißt dieser Faden, verschwindet zwischen den für sich stehenden Bildern, die tumultuos sind, dazwischen die wasserfarbstillen Konturen und Formen, die nicht Einhalt gebieten, aber doch, was sonst alles stiebt, von Zeit zu Zeit wieder sammeln.

Animation ist das, die zwischen Bewegt und Nichtbewegt oszilliert und aus der Differenz ihren Reichtum bezieht. In wechselnden Stilen, Öl, Pastell, mal Linien in Schwarz-Weiß, mal mit Jugendstil-Anklängen, niemals aber von jenem Realismus, der die Figur in einem Hintergrund aufhebt, um die Illusion eines lebensechten Bilds zu erzeugen. Man kann sich in diesen Bildern verlieren, man kann die Augen an ihnen weiden. Und man sollte es tun.

Info

Belladonna of Sadness Eiichi Yamamoto Japan 1973, 93 Minuten

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