Shakespeare lebt

»HAMLET« IM ORIGINAL Das Londoner New Globe betreibt Shakespeare-Pflege als Volkstheater im besten Sinne

Hamlet in Shakespeares Globe: Das beginnt mit einem Schock - Trompeten vom Balkon, bunte Renaissance-Kostüme, Hellebarden, ein Geist in scheppernder Ritterrüstung, und man möchte ausrufen: »Oh, Gott, wir sind in ein Museum geraten!« Aber dann entfaltet sich das Spiel: und nach wenigen Minuten - oder waren es nur Sekunden? - ist man so absorbiert und gefesselt von diesem Ensemble aus offenem Himmel und besterntem Bühnendach, von den Menschen, die die Bühne umringen und die Schauspieler in ihre Mitte nehmen, vom hellen Tageslicht, das die Sprache Shakespeares zum Leuchten bringt, wie es kein abgedunkelter Theaterraum vermag, vom gelegentlichen Regen, den die Schauspieler mit einer Handbewegung oder Geste in ihre Handlung einbeziehen, von der Unmittelbarkeit der Publikums-Ansprache, die jeden Monolog und jedes »beiseite« gesprochene Wort zum Dialog werden lässt, vom Tempo, mit dem die allbekannte Handlung über die Bühne und durch ihre drei Türen geht und das uns keine Zeit zum Atemholen lässt. Eine Szene jagt die andere - schließlich handelt es sich ja hier um einen Krimi, den größten, den die Bühnengeschichte kennt - zwei kurze, wieder von intelligent komponierten Fanfaren markierte Pausen, und nach dreieinhalb Stunden ist er vorbei, dieser einmalige, erstmalige »Original-Hamlet«, der in diesem Jahr seinen 400. Geburtstag hat. Der »Rest« ist nicht »Schweigen«, sondern ein Tanz des Ensembles zum rhythmischen Klatschen des Publikums, das dieses Erlebnis - und es ist ein Erlebnis! - zusammen mit den Schauspielern begeistert feiert. Wer glaubt, seinen Hamlet von so vielen Inszenierungen zu kennen, der lasse sich hier eines Besseren belehren: er/sie wird ihn zum erstenmal sehen. Man nehme den nächsten Flug nach London und die billigsten, nämlich die Stehplätze ganz vorn an der Bühne, weil es die besten sind. Wer sinnlich erfahren will, was Theater ist und noch immer, oder wieder sein kann, blutvoll, un-intellektualistisch, und zugleich ein hochintelligentes Vergnügen, der muss seine Pilgerfahrt zum Globe antreten.

Auch dem Theater-Kritiker muss das Recht auf Begeisterung zugestanden werden. Aber er kann sie begründen - insbesondere für diesen Hamlet (über die theater-revolutionäre Globe-Rekonstruktion wurde bereits anlässlich der Eröffnungs-Saison ausführlich berichtet: Freitag, 25. Juli und 29. August 1997). Dabei sei offen eingeräumt, dass das Globe und fast alle seine Produktionen von der Mehrheit der englischen Kritik eher snobistisch und herablassend behandelt werden - aber welcher Berufskritiker, auch hierzulande, liebt denn das Theater und lässt es sich noch »unter die Haut« gehen? Hamlet gibt dafür geradezu ein Paradebeispiel ab. - Man kann, so scheint es, diese als die rätselhafteste und zugleich für den Menschen der europäischen Moderne paradigmatische Figur anerkannte dichterische Schöpfung überhaupt nicht mehr auf die Bühne bringen, ohne sie zu »interpretieren«, ohne mit dem Drama eine Aussage, eine »Botschaft« zu inszenieren, ohne Stellung zu nehmen zu Hamlet - als Zauderer, Grübler oder Kämpfer, als Rächer oder Philosophen, Mann des Gewissens oder Gewissenlosigkeit, der mehr weiß, »als was unsere Schulweisheit uns träumen lässt«, der eine Welt zugrunde richtet, indem er nicht mehr auf die Stimme der Vernunft hört, als Opfer der Politik oder als ihr Protagonist. Folglich sind alle Hamlet-Veranstaltungen, insbesondere die deutschen, solche des philosophischen oder existenziellen Tiefsinns: man hat ihn schwarz in schwarz zu spielen, mit Totenschädel im Halbdunkel.

Genau das Gegenteil nun im Londoner Globe; und obwohl es natürlich ganz absurd und unmöglich ist, das elisabethanische Zeitalter zu rekonstruieren - so wie es unmöglich ist, die Matthäus-Passion so aufzuführen, wie sie zu Bachs Zeiten von der Gemeinde der Thomaskirche erlebt wurde - so führt doch eine Annäherung an den Shakespeareschen Original-Klang zu aufregenden Entdeckungen, ja geradezu Neuentdeckungen, ähnlich denen, die in der Musik mit der historischen Aufführungspraxis in den letzten Jahren gemacht wurden, oder auch denen der restaurierten Michelangelo-Fresken in der Sixtinischen Kapelle.

Was also kommt bei einem derart von seinen dunklen Bedeutungsbefrachtungen und der Interpretationspatina befreiten Hamlet zum Vorschein? Zuerst einmal, dass wir am Theaterspiel teilhaben. Das klingt banal, Theater ist doch immer Theater - aber nein: hier erlebt das Publikum »Theater zum Anfassen«, es hat die Schauspieler in seiner Mitte, ist sich zu jeder Zeit bewusst, dass hier gespielt wird, dass das Ganze ein Spiel ist: so gut wie keine Requisiten auf der Bühne, und das helle Tageslicht wirkt wie eine Befreiung aus der Dunkelheit des traditionellen Zuschauerraums, in dem wir - wie in Platons Höhlengleichnis - an unsere streng ausgerichteten Sitze gefesselt sind; hier darf man sich bewegen, darf den anderen beim Zuschauen zuschauen und wird von den Schauspielern ebenso direkt angesprochen, wie man ihnen etwas zurufen darf (und viele tun das auch). Und es ist kein elitäres, vielmehr ein populäres Spielen: wir kommen auf unsere Unterhaltungs-Kosten, derbe Wortspiele und doppeldeutige Witze finden einen spontanen Resonanzboden; die alles andere als leichte, poetisch oft verschlüsselte Sprache Shakespeares erscheint plötzlich so klar und durchsichtig und eingängig, als sei sie die Sprache des gemeinen Volkes selbst - man versteht alles (oder glaubt es wenigstens, worauf es zu nächst einmal ja ankommt): schwer zu sagen warum - wegen des Tageslichts, der physischen Nähe der Spieler, der Intensität ihres Spielens, wegen der Körpersprache und der rasanten Handlungsabläufe, die in actu kein tiefsinniges Nachdenken zulassen, wegen der ständigen Präsenz der konzentriert teilnehmenden Mitmenschen, deren spontane Reaktionen ihrerseits ansteckend wirken - viele Faktoren. Was Robert Weimann in historischer Perspektive über das elisabethanische »Volkstheater« geschrieben hat - und wodurch sich die »Bremer Shakespeare-Kompanie« hat inspirieren lassen - hier wird's Ereignis.

Von Goethe stammt das schöne Bild von der in der Oberfläche verborgenen Tiefe: Eben das macht den Globe-Hamlet aus. Oberfläche sind die elisabethanischen Kostüme (bis zu den Schuhen mit größter Sorgfalt gearbeitet), die historisierende Fanfarenmusik, und vor allem natürlich dieser einmalige, auch materialgerecht rekonstruierte Theaterraum (wenn Hamlet spricht von »diesem herrlichen Baldachin, dieser Luft, diesem prächtigen umwölbenden Firmament, diesem majestätischen Dach mit goldnem Feuer ausgelegt«, folgt man ganz selbstverständlich seinem Blick unter das mit Sonne, Mond und Sternen ausgemalte Vordach), aber Oberfläche ist es dann schon nicht mehr, wenn sich jede/r ständig der eigenen Präsenz im Theater bewusst bleibt und so gewissermaßen ein natürlicher V-Effekt entsteht: ohne Theorie. Oberfläche ist auch noch die Entdeckung von Hamlet als Komödie, als streckenweises und punktuelles Lustspiel voller Witz und Komik, das Vergnügen an einer puppenspiel-ähnlichen Bühnen-Ästhetik, wo die Protagonisten ebenso schnell abtreten wie aus einer der drei Türen wieder auftreten - ohne Lichtregie und Umbaupausen: aber eben durch diese Oberflächigkeit wird der Tiefgang, die Tragödie, die Vieldimensionalität von Text und Handlung auf eine paradoxe Weise um so eindrucksvoller - um ein Vielfaches aufregender als so manche Inszenierung, die von vornherein nur auf den Tiefsinn setzt und damit dem Stück auf der Bühne gar keinen Unterhaltungswert mehr zuerkennen will. Auch das ein »Verfremdungseffekt« auf höherer Ebene.

Sodann aber auch die schon erwähnten Monologe und »beiseite« gesprochenen Worte, mit denen das Publikum zum Komplizen und Teilnehmer am dramatischen Geschehen gemacht und in die Handlung einbezogen wird. Wenn Hamlet vom Theater als dem Spiegel und der Chronik der Zeit spricht, so versteht jeder konkret, was damit gemeint ist - die philosophische Bedeutung mag der gelehrten philologischen Auslegung überlassen bleiben. Die berühmte »Rede an die Schauspieler« wird aufgebrochen durch praktische Mini-Demonstrationen des Regisseurs Hamlet und damit zum Lehr-Dialog zwischen ihm und den Schauspielern zum Nutzen des Publikums. Alles scheint Improvisationstheater und alles spielt mit - selbst die Wolken am offenen Himmel: »Ist das ein Wiesel?«

Obwohl Hamlet natürlich im Zentrum des Dramas steht, wird das Geschehen nicht auf ihn konzentriert, ist er nur einer von vielen, auch schauspielerisch gleichermaßen gewichtigen Personen, die die Bühne bevölkern. Polonius ist keine komische Figur oder ein etwas vertrottelter Alt-Höfling, sondern ein oberflächlich-tüchtiger Beamter, der die Lebensregeln für seinen abreisenden Sohn Laertes schön säuberlich aufgeschrieben hat und ihm dann mitgibt; Claudio ist ein effizienter, lebensfroher König, vermutlich kompetenter und sicherlich erfolgreicher als König Hamlet, dem außer dem Mord am Bruder eigentlich nichts vorzuwerfen ist; Horatio ein zuverlässiger älterer Freund, der glaubwürdig Vertrauen ausstrahlt - und auch der Ophelia nimmt man ihr Verhalten in jedem Moment ab. Rosenkranz und Güldenstern sind endlich einmal keine komischen Figuren und Karikaturen, sondern normale, intelligente junge Leute, denen man glaubt, dass Hamlet sie einst zu Freunden gehabt hat. Und Hamlet selbst wird vom künstlerischen Direktor des Globe, Mark Rylance, gespielt. Es ist ein jugendlicher, fast kindlicher Hamlet, extrem leicht erregbar, darum unberechenbar, quicklebendig und zugleich unverantwortlich handelnd, ein sympathischer junger Mann, aber unzweifelhaft ein Aristokrat, kein Grübler, vielmehr einer, der laut vor sich hin denkt und redet und unfertig ist mit den eigenen Gedanken, der ständig Fragen stellt, auf die wir keine Antworten haben, dem das Leben voller Überraschungen zu sein scheint, die auf ihn einstürzen und denen er sich zu stellen sucht - und darum an ihnen scheitern muss: Alles versucht er aufzunehmen und zu verstehen, was zwischen Himmel und Hölle gespielt wird, jedem Problem will er bis in die Tiefe nachgehen - und so wird alles ihm zuviel, wird er ein Getriebener, der keine Zeit hat, will er sich mit den Konventionen der Alltäglichkeit nicht abfinden und zerstört darum alles um ihn herum und schließlich sich selbst. Und so bleibt er ein Rätsel - für uns. Die elisabethanische Kostümierung ist seine Maske, so wie sie die Shakespeares ist: dass nicht ist, was es scheint, hat dieser in 37 immer wieder staunenenswerten Stücken variiert.

Gegen diesen Hamlet möchte der Tempest mit der großen Vanessa Redgrave als Prospero fast verblassen - fast, nicht wirklich. Das Globe hat sich zwei Ensembles gegeben: die »White Company«, die überwiegend den traditionellen Shakespeare gibt, und die »Red Company«, die mit modernen, zum Teil fremdkulturellen Formen experimentiert - so wie dieser Sturm von der aus Belgrad stammenden Lenka Udovicki mit balkanischer Musik und balkanisierenden Kostümen. Und es funktioniert. Die Shakespeare-Bühne erweist sich als offen für viele Formen und Stile - und die Intensität des Spieles kann man nirgends so hautnah miterleben wie stehend an der Bühnenrampe, wo der V-Effekt dann gewissermaßen wieder aufgehoben wird: Ist es möglich, dass die Begegnung der Liebenden, Ferdinand und Miranda, tatsächlich in früheren Vorstellungen schon einmal stattgefunden hat? So erst- und einmalig scheint sie zu sein. Einem extrem konventionellen Caliban, einem Rohfisch essenden, lehmverkrusteten Wilden, der es allerdings fertigbringt, sämtliche Sympathien des Publikums auf sich zu ziehen, steht ein unkonventioneller, eher väterlicher als strenger und dieser Welt entrückter Prospero gegenüber, der mehr menschliche Wärme ausstrahlt als die Autorität des Gelehrten und Herrschers über die Elemente. Und wenn der in seinem bewegenden Schluss-Epilog das Publikum bittet, durch seinen Applaus ihm zu helfen, ins Leben zurückzukehren, so funktioniert das wie sonst in keinem Theater: »As you from crimes would pardoned be, / Let your indulgence set me free.« Vanesse Redgrave sieht in diesen Versen der Vergebung und Versöhnung eine der politischen Botschaften des Stückes.

»Shakespeare über alles«: So wie es keinen Londoner Buchladen ohne reichhaltige Shakespeare-Literatur gibt (und das, im Unterschied zu Goethe in Deutschland, der dazu eines Jubiläums bedarf), so ist auch das Theater voll mit seinen Stücken. Zwar hat die skandalöse Sparpolitik der britischen Regierung die »Royal Shakespeare Company« aus London so gut wie vertrieben (ihre Produktionen sind fast nur noch in Stratford-upon-Avon zu sehen), aber das schließt andere Shakespeare-Produktionen nicht aus - wie die eines Richard II in der riesigen Halle der Gainsborough Studios, wo Alfred Hitchcock einige seiner berühmtesten Filme gedreht hat. Hier ist nun ein ganz anderer Shakespeare zu erleben - im Cinemascope-Format sozusagen, auf einer »Bühne«, die die Salzburger Felsenreitschule klein erscheinen, auf der sich aber der ganze Pomp und das Zeremonielle, das zu diesem Stück gehört, mit allen modernen Effekten entfalten lässt. Und wenn man es kurz zuvor bei Peymann im BE gesehen hat (von Castorfs Das Eigentum genannter Bearbeitung aus der letzten Spielzeit ganz zu schweigen), reibt man sich die Augen und fragt sich, ob das wohl dasselbe Stück ist... Star ist hier der aus seinen Filmen international bekannt gewordene Ralph Fiennes (Sunshine), der, in einem Kraftakt sondergleichen, noch dazu mit derselben Truppe dort alternierend den Coriolanus spielt. Hauptsponsor des zweimonatigen Unternehmens ist die Deutsche Bank ... Wenn man dann aber erfährt, dass es noch einen weiteren Richard II bei der Royal Shakespeare Company gibt, fragt man sich, woher diese eigenartige Konjunktur eines Stückes kommt, das immer eher im Schatten der anderen Historien - Richard III, Heinrich V. und auch der Falstaff-Stücke - gestanden hat. Könnte es sein, dass wir darin eine in Deutschland und England theatralisch reflektierte Reaktion auf den untergründigen Legitimationsverlust aller politischen Klassen erkennen sollten, der konservativen (Richard II.) so gut wie der effizienten sozialdemokratischen (Bolingbroke)? Denn dieses Drama in der Maske einer Geschichtschronik handelt ja von der Brüchigkeit und Unglaubwürdigkeit in Politik und Staat, von der Verderbtheit von Regierung und Opposition gleichermaßen - und es deutet auch die Gründe dafür an: fehlender Respekt vor der Kosmologie bei den Konservativen und die Bedenkenlosigkeit der Progressiven in der Wahl der Mittel, die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken - ohne deswegen gleich auch einen Ausweg, eine »Lösung« aufzuzeigen: Mit Shakespeare die Welt zu verstehen, macht sie eher komplexer als einfacher. Die Schauspieler aber sind, wie Hamlet uns erläutert »the abstracts and brief chronicles of the time«, Spiegel und Chronik der Zeit - und Shakespeare ist noch immer ein Zeitgenosse, der unsere Stücke besser als jeder andere schreibt.

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