Einsam im Nebel

Bühne Thom Luz inszeniert Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Die Pointe, der Zerfall des Zusammenhangs, wird per Singspiel verschärft
Ausgabe 39/2016

Herr Geiser sitzt und schweigt. Er sitzt in der Bühnenmitte, im Bühnenvordergrund, kaum mehr als ein Schattenriss, ein Schattenriss mit den Konturen von Ulrich Matthes; da sitzt er und schweigt. Eine ganze Weile schweigt er, während eine Besuchergruppe über die Bühne geht, mehrfach, und die Führerin etwas vom Tal erzählt, in dem Herr Geiser lebt. Herr Geiser ist der Held von Max Frischs später Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän, die hier zur Aufführung kommt. Seit 14 Jahren lebt Herr Geiser in dem Tal, die Frau ist gestorben, die Dinge beginnen zu rutschen, er hält Sachen fest auf an die Wand gehefteten Zetteln. Hilft alles nichts: Es geht dahin.

Zweimal setzt Herr Geiser in der Bühnenmitte des Deutschen Theaters an zu sprechen, spricht sogar einen Satz, spricht davon, wie es begonnen hat, da rauscht zweimal der schwarze Bühnenvorhang nach unten, zweimal ist es mit dem Sprechen und dem Beginnen gleich wieder Essig. Es wird darum schon lange losgegangen sein, bevor es mit Herrn Geiser dann los- und dahingeht. Davor, ganz zu Beginn, vor dem Vorhang, hat schon der Klavierspieler etwas von den Erdzeitaltern erzählt. Auf der Bühne sechs Klaviere. Irgendeines wird quasi immer gespielt. Eins wird einmal mühsam über den Boden geschoben, wobei es eher wie ein verstimmter Dudelsack klingt. Auch die Übrigen machen, wenn man sie anschlägt, nicht immer Geräusche, die man von Klavieren erwartet. Ein andermal fährt der Boden im Kreis, und der Klavierspieler spielt, wann immer er an einem der Klaviere vorbeikommt. Sonst spielt er mit fuchtelnden Händen ins Leere.

Mehr zur Bühne: Sie ist rundum weiß, es steht als eine Art Hochsitz ein Haus mit erst keiner, dann einer, dann zwei Wänden, mehr werden es nicht, in der Mitte. Wirklich hell wird es, dem Weiß zum Trotz, nicht. Vielmehr ist das Licht lange ins Neblig-Graue gedimmt. Später wird es dunkel, und da bekommt ein gelenkiger Projektor, der Licht wirft, einen ganz großen Auftritt. Licht fließt in an der Schnur gezogenen Bahnen, mit Spiegeln wird daraus eine ausgefuchste, im milchigen Zickzack über die Bühne gezogene Lichtkonstruktion.

Ohne Kitty

Aber da spricht Herr Geiser schon eine Weile. Und zwar von sich, und zwar, wie es im Buch steht, in der dritten Person. So holen Thom Luz, der Regisseur, und David Heiligers, der Dramaturg, die Erzählung ins Theater. Sie haben die Vorlage klug filetiert. Manche Passagen tauchen auf, andere nicht. Die Wanderung von Herrn Geiser fällt weg. Kitty, die Katze, bei den Rosen begraben, kommt so wenig vor wie der Feuersalamander bei Frisch. Und schon bei Frisch ist der Zerfall des Zusammenhangs die Pointe. Die wird hier per Singspiel verschärft. Ulrich Matthes spricht seine Frisch-Sätze vom Herrn Geiser, der er ist, also etwa die Sätze über die Arten des Donners, immer so, dass man den Nebel mithören kann, aus dem jeder der Sätze kommt, in den jeder der Sätze weniger verschwommen als in Schattenrissen hinausragt.

Wer Singspiel sagt, kann von Christoph Marthaler nicht schweigen. Thom Luz ist ein junger Schweizer, Hausregisseur am Theater Basel, mit dem der Abend koproduziert ist, er ist auch Schauspieler und Musiker. Und wie Luz Texte in Szenen zerlegt, die für sich stehen dürfen, Szenen, in die Musik hineinweht, in denen Momente liedförmig werden, die Art, wie er nicht den Zusammenhang, sondern den Auseinanderfall privilegiert, seine Liebe zur Wiederholung und zur Variation, die Art, wie das Sanfte über das Laute geht und das Milde über das Harte, all das hat von Marthaler manches.

Es ist aber kühler, sachlicher, frei wie nichts, das Marthaler je gemacht hat, von Nostalgie und von Wehmut. Auch weniger komisch. Und wo bei Marthaler die Gegenstände einen Eigensinn haben, der ihnen aber etwas Menschliches gibt, wenngleich dieses Menschliche ohne Emphase des Individuums auskommt, wenn also das Menschliche bei Marthaler gerade in diesem subjektfreien Eigensinn liegt, den er den Dingen und Bauten und Menschen und Geräten fast unterschiedslos zukommen lässt; so ist es hier bei Thom Luz eher umgekehrt so, dass Menschen wie Dinge in ihrem Ablauf festgelegt scheinen. Man nehme den Projektor, der bei seinem großen Auftritt eben nicht wie ein Ding mit Eigensinn wirkt, sondern wie ein Gerät, das noch und gerade in seinem erratischen Tun präzisen Steuerbefehlen gehorcht. Sein Licht fällt entsprechend abgezirkelt genau.

Das hat dann weniger Charme als die besseren Marthaler-Sachen. Aber der Charme ist bei Marthaler eben mit der Schwäche für Wehmut erkauft. Luz ist sanft, aber nüchtern. Und wird damit Frisch sehr gerecht, der diese späte Erzählung mit Sachmaterial aus Lexika (zwölfbändiger Brockhaus von 1953) auszuhärten versucht hat. Der alte Mann und sein Zettelsalat. Eine Welt, in der alles ins Rutschen gerät. Bei Luz rutscht es fast klinisch genau. Wenn am Ende Nebelwand hinter Nebelwand fällt, werden die Menschen und Dinge in ihren Konturen umso schärfer umrissen. Der Mensch erscheint im Holozän. Und er verschwindet wie im Alpental ein Gesicht in einer Nebelwand.

info

Der Mensch erscheint im Holozän Regie: Thom Luz Deutsches Theater, Berlin

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