Abgeschaltete Gefühle

Theater heute (8) Warum weinen wir nicht mehr, wenn wir Dramen anschauen? Über die Relevanz der zeitgenössischen Bühne aus einer radikal emotionalen Perspektive

Die Beobachtung, von der ich ausgehe, ist ausgesprochen subjektiv: Das deutsche Theater hat sich in den vergangenen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten (das gehört auch in die Behauptung der nicht genauen Feststellbarkeit) systematisch die Emotionen ausgetrieben und damit eine entsprechende Publikumserwartung und -haltung. Man frage sich selbst und seine theatergehenden Freunde, wann sie zum letzten mal seelisch aufgewühlt, emotional betroffen, erregt oder aufgeregt, gar erschüttert aus dem Theater gekommen seien, Tränen nicht ausgeschlossen.

Natürlich sind damit nicht Zorn, Ärger und Empörung über eine bestimmte Aufführung, eine Regie oder eine schauspielerische Fehlleistung gemeint – das kommt schon häufiger vor, wenn auch wiederum mit gleicher Tendenz: Buh-Rufe beim Schlussapplaus, wütend zugeschlagene Türen während der Vorstellung, heiße, lautstarke Kontroversen am Ende einer Premiere, das war noch vor 10 oder 20 Jahren nichts Besonderes; heute gehören solche Reaktionen allenfalls noch in der Oper zum Premierenritual – aus Gründen, von denen noch die Rede sein wird.

Ältere Schauspieler – so Ulrich Matthes in einem Berliner Akademiegespräch zur „Kritik des Zuschauers“ – konstatieren kopfschüttelnd, was das heutige Publikum alles schluckt, ohne sicht- und hörbare Stellung zu beziehen: Es scheine, als ob die Leidenschaft dem Theater abhanden gekommen ist, und zwar den Theatermachern ebenso wie dem Publikum, denn nur sie zusammen machen ja „das Theater“ als immer wieder und an jedem Abend einmalige kollektive Erfahrung aus. Wenn diese geduldige Passivität zum Dauerzustand wird, ist das Theater, so Matthes, in 20 Jahren ernsthaft gefährdet.

Natürlich sind das eigentlich unzulässige Pauschalurteile. Den Schauspielern generell die Leidenschaft zu ihrem finanziell bescheiden genug honorierten Beruf abzusprechen, ist ebenso falsch und ungerecht wie die gleichzeitige Behauptung, das Publikum werde vom gegenwärtigen Theater überhaupt nicht mehr emotional angesprochen. Jeder einigermaßen regelmäßige Besucher wird da Ausnahmen und Gegenbeispiele ins Feld führen können. Aber damit machte man sich das Problem zu einfach. Es geht um einen tendenziellen Befund, um die Beobachtung eines langfristigen Trends aus historischer Perspektive auf die gegenwärtige Theaterlandschaft.

Die Rolle der Politik

Die letzte Zeit, in der das (deutsche) Theater noch mit Engagement und Leidenschaft betrieben und so von seinen „Konsumenten“ rezipiert wurde, in der es knisterte in den Zuschauerräumen, in der für die oben auf der Bühne und die unten im Parkett etwas auf dem Spiele stand und man nicht nur den Schauspielern und Regisseuren applaudierte, sondern auch alten Stücken, die etwas über uns selbst zu sagen versuchten und wir uns dessen ahnungsvoll bewusst waren, war die Zeit der Wende: Im Osten vielleicht mehr als im Westen, aber doch in der deutschen Stadt- und Staatstheaterlandschaft insgesamt.

Die Politik spielte eine gewichtige, wenn nicht entscheidende Rolle als Rahmen für die theatralischen Exkurse. Das muss nicht der einzige Grund gewesen sein für die Lebendigkeit, die öffentliche Spannung und die aufregenden Produktionen jener Jahre. Die Diskurse der Kunst, zu denen das Theater gehört, haben ihre eigenen Konjunkturen. Ihre Höhen und Tiefen, ihre goldenen und weniger goldenen Zeiten sind nur bedingt abhängig von den politisch-atmosphärischen Großwetterlagen und nicht eins zu eins von diesen ableitbar.

Das muss man zur Kenntnis nehmen und sich, vor allem in dürftigen Zeiten, damit fatalistisch abfinden. Aber es ist die legitime Pflicht und Funktion der Kultur- und in diesem Falle der Theaterkritik, darauf aufmerksam zu machen und daran zu erinnern, dass ein beklagenswerter Zustandsbefund nicht als normal, um nicht zu sagen normativ gerechtfertigt werden sollte. Und so eben auch die Beobachtung vom Schwund der Emotionen aus dem Theater – wenn sie denn nicht völlig falsch ist.

Geballte Fäuste von 1782

Auf der erwähnten Akademie-Veranstaltung über die Rolle des Publikums gab es eine kurz aufblitzende Sekunde der Wahrheit, als der Schauspieler Fabian Hinrichs sich erfreut zeigte über ein Publikum, das „durch Lachen und Weinen“ seine Anteilnahme zeige – aber kaum hatte er das „und Weinen“ ausgesprochen, wischte er es mit einer sprachlichen Handbewegung sofort wieder weg mit dem schnell halblaut gesprochenen Nachsatz, das käme ja heute nicht mehr vor, gerade als habe er versehentlich etwas Falsches gesagt. Aber recht hatte er: Wann, wo und von wie vielen deutschen Theaterbesuchern wurde in den letzten Jahren noch geweint? Das mag eine geradezu kitschige Frage sein – aber sie darf, sie muss gestellt und wenn möglich zumindest individuell beantwortet werden dürfen.

Systematisch gesprochen darf man hier auf die älteste Quelle der Theatertheorie zurückgreifen: Auf Aristoteles und dessen in der Poetik und der Politik am Beispiel der Theatermusik entwickelten Begriff der „Katharsis“, der „sittlich wohltuenden Reinigung und Erleichterung,“ die sich einstellt im „Affekt des Mitleids, der Furcht und ebenso der Begeisterung“. Affekte, die im Theater „bei allen Gemütern stattfinden, nur hier in minderer, dort in größerer Stärke.“ Aus der Frühzeit des modernen deutschen Theaters gibt es einen Augenzeugenbericht über die fünfstündige Uraufführung von Friedrich Schillers Die Räuber (1782), ein gefühlsgeladenes explosives Publikumsereignis, von dem unser heutiges Theater nicht einmal zu träumen wagt: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos.“

Kein geringerer als der vermeintlich analytisch verfremdende Theatermann Brecht sprach von dem „Schrecken, der zur Erkenntnis nötig ist“ – also von der Emotion als Vehikel der Erkenntnis, sei es nun wie gesagt als „Schrecken“ oder, bei Ernst Bloch, als „echte Rührung“ über den Untergang des Helden im Horizont der Hoffnung auf ein anderes Morgen.

Tränen in London

Im Londoner Globe Theatre, der rekonstruierten Shakespeare-Bühne, bemerkte ich am Ende einer Aufführung von As You Like It (gespielt wird immer bei Tageslicht und mit Sichtkontakt zum Publikum) nach den revels, den traditionellen finalen rhythmischen Freudentänzen der Schauspieler, wie einige Besucher sich verstohlen die Tränen trockneten . Wohlgemerkt: Nach einem mit viel Lachen, Zurufen und von Wortwitz und Verwechslungskomik überbordenden Stück weinten wir vor Freude; und ein Nachbar, ein älterer Mann von schlichter Erscheinung, fragte mich beim Verlassen des Theaters anrührend und glücklich zugleich: „Warum weinen wir?“

Ich will an dieser Stelle nicht meine Antwort sagen; genug, dass wir und nicht wenige andere hier eine Katharsis erfahren hatten – und die bleibt unvergesslich, verändert die Haltung zum Leben draußen.

Um die eingangs behauptete These von der im deutschen Theater verdrängten Gefühlsdimension wieder aufzunehmen: Sie gilt nicht – oder sie gilt nur in vergleichbar geringerem Umfang – für die Oper. Natürlich liegt das an der überwältigenden Macht der Musik, der es zumeist gelingt, selbst problematische Inszenierungen sich zu unterwerfen. Alexander Kluge hat für sie den schönen Begriff vom „Kraftwerk der Gefühle“ geprägt – und in der Tat scheint die Oper, und zwar auch die zeitgenössische, heute mehr als das Sprechtheater jenes genuine Bedürfnis zu befriedigen, von großen, leidenschaftlichen Themen emotional angesprochen zu werden und eine – und sei sie auch bescheiden – Katharsis zu erleben. Dasselbe gilt auch für den Konzertsaal und die klassische so gut wie die moderne Symphonik, über deren „ethische Wirkung“ (Aristoteles) die meisten Menschen zwar nicht in der Lage sind, sich anschließend verbal Rechenschaft abzulegen, aber irgend etwas passiert mit ihnen in diesen gut zwei Stunden gebannten Zuhörens auf „tönende Luft“, wie Daniel Barenboim die Musik scheinbar nüchtern definiert.

Und es gibt noch ein weiteres Massenmedium, welches das Emotionsbedürfnis vieler Menschen zu befriedigen scheint und damit dem Theater das Wasser abgräbt: den Film. Im Kino kann man es häufig erleben, dass das Publikum zum Taschentuch greift, ohne es als peinlich zu empfinden und sich vor den Mitmenschen zu schämen.

Unter der Asche die Glut

Nun sollte hier kein Plädoyer für ein Theater der Tränen, der Sentimentalität und der Rührseligkeit gehalten werden – weit entfernt davon. Aber sich daran zu erinnern, dass auch und nicht zuletzt die Erkenntnis, die „Aufklärung“ im weitesten auch politischen Sinne, die geistig-ethische Bildung, die Schärfung der moralischen Urteilskraft und die Sensibilisierung für Unrecht und Ungerechtigkeit in dieser Welt sich zum geringsten Teil über verbale Argumente vollziehen, sondern mit größerer Effektivität und Tiefenwirkung auf dem Felde der Ästhetik, welches eben auch die Sprache der Dichtung, der Literatur und damit auch des Dramas, also des Theaters ist. Das sollte nicht als eine konservative, um nicht zu sagen reaktionäre Position abgetan, vielmehr ernsthaft bedacht werden.

Das Theater ist viel zu wichtig, um einerseits dem Markt, also der populär-billigen „Nachfrage“, oder andererseits der subventionierten leidenschaftslosen Routine überlassen zu werden. Immerhin sind die aktuellen Verteidigungsanstrengungen der deutschen Stadttheater-Kultur durch Bürgerinitiativen ein ermutigendes Zeichen, dass noch Glut unter der Asche glimmt.

Ob sie stark genug sind für die Provinz-Kommunalbürokraten und Stadtkämmerer, wird sich zeigen müssen. Diese Bewährungsprobe steht unmittelbar bevor. Einige Niederlagen durch geschlossene und fusionierte Häuser haben wir in jüngster Zeit bereits erlitten. Diese Verteidigung bedarf aber eben auch eines emotionalen Bürger-Engagements („Empört Euch“) für ein nicht quantifizierbares „Gefühls-Gut“. Sie kann als Vorwärtsverteidigung nur so stark sein, wie die Gefühle von Loyalität für und erfahrener Lebensbereicherung durch das Theater generiert und jeden Tag erneuert werden.

Ekkehart Krippendorff schreibt für den Freitag Kritiken über Theater und Oper. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher Shakespeares Komödien (2007) und Die Kultur des Politischen. Wege aus den Diskursen der Macht (2009)

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