Man muss nicht ins Theater gehen - aber wer sich diesen lebensnotwendigen Luxus leistet - ob regelmäßig oder nur gelegentlich - der macht jedes Mal eine unwiederholbare Erfahrung: Jede Vorstellung ist so einmalig wie der einzelne Tag. Man muss im Theater nicht Tschechow sehen - aber wer ein Stück dieses russischen Dichters zu sehen bekommt - ob geplant oder vom Abonnement zugeteilt - dem werden Einblicke in die Einzelschicksale gewöhnlicher Menschen vermittelt, wie man sie nirgendwo anders, und schon gar nicht im sogenannten "wirklichen Leben", bekommen kann. Man muss nicht das Tschechow-Stück Die Möwe sehen - aber wer die Gelegenheit nutzt, der kehrt um mitgelebte, mitgelittene Lebenserfahrungen bereichert und um eine einfache, große, aber schwer zu akzeptierende Einsicht weiser in den Alltag zurück. Im Deutschen Theater hatte Die Möwe in der Regie von Thomas Langhoff soeben Premiere.
"Wir beschreiben das Leben so, wie es ist und weiter weder piep noch pup. Weiter prügeln sie uns nicht mal mit der Peitsche," schreibt Tschechow selbstkritisch über sich und seine Schriftstellerkollegen an einen Freund. "Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden. Ob dies eine Krankheit ist oder nicht - es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um das Eingeständnis unserer Lage." Heute, hundert Jahre später, nach programmatisch-ideologisch geführten Weltkriegen und Revolutionen, nachdem sich die Utopien eines neuen Fortschrittszeitalters mehrfach in Alpträume der Moderne verkehrt haben, ist das wieder unsere Lage und rückt uns die Tschechow-Welt bestürzend nahe. Und es ist gewiss kein Zufall, dass dabei gerade Die Möwe in den letzten Jahren - vor Ivanov, Drei Schwestern oder Kirschgarten - in den Vordergrund rückte. In besonderem Maße ist Tschechow der Klassiker unserer Wohlstandsgesellschaft: Seine Figuren sind keine Helden, sondern Durchschnittsmenschen. Er bringt ihre Alltäglichkeit zur Sprache, den Leerlauf kleiner Leute in einer materiell saturierten Gesellschaft, die auch eine Gesellschaft ohne Metaphysik ist. Deren, unsere Befindlichkeit trifft Tschechow mit großer Sensibilität und Selbstverständlichkeit. Das aber kann nur jemand, der selbst an ihr leidet. "Wissenschaft und Technik erleben jetzt eine große Zeit", schreibt er im bereits zitierten Brief, "für unsereinen dagegen ist diese Zeit brüchig, langweilig, wir selbst sind sauer und langweilig..."
Der Arzt Tschechow konnte sein dichterisches Werk nebenberuflich nur zustandebringen unter dem durch Arbeitsdisziplin kompensierten Leidensdruck. Das macht, noch einmal, seine Modernität aus: Hier wird nicht die rote Fahne des Kampfes für die Hütten und gegen die Paläste hochgehalten, nicht die Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt artikuliert, sondern hier leidet jemand mit an der Misere seiner, der von ihm geschaffenen und ins Leben der Bühne gesetzten Menschen. Es sind, obwohl hundert Jahre alt und aus Russland, die Wohlstandsbürger unserer Gegenwart. Tschechows dichterische Leidenschaft ist die des Mitleids. Aber nun nicht in einer Haltung der Herablassung, der Überlegenheit, des Tröstenden: Indem er uns seine Figuren so verständnisvoll, so liebevoll, so einfühlsam und ohne jede Häme, ohne jede Besserwisserei oder Denunziation überantwortet - denn als Zuschauer nehmen wir ja für die magische Zeit von drei Stunden unmittelbaren Anteil an ihrem lebendigen Geschick dort auf der Bühne - fordert er uns auch auf darüber nachzudenken, worin die Krankheit bestehe, an der sie alle auf verschiedenste Weise und in unterschiedlicher Intensität leiden.
Jede und jeder liebt hier jemand anderen, keiner ist mit dem, was er hat zufrieden und alle suchen das Glück des Lebens woanders. Unzufriedenheit inmitten der Alltäglichkeit, deren potentiellen Reichtum an Erfüllung sie alle übersehen - der eine, indem er davon träumt, ein großer Dichter, die andere, eine gefeierte Schauspielerin zu werden, die dritte, der es nicht genügen will, die Frau des sie liebenden Lehrers zu werden. "Allen ist mies," fasst der Berliner Starkritiker Alfred Kerr 1917 die Botschaft zynisch verkürzend zusammen. "Keiner ist geworden, was er werden wollte." Nur scheinbar belässt es Tschechow bei dieser Diagnose, implizit deutet er, der Arzt, auch die Therapie an. Sie wird am Schicksal der einzelnen Figuren variiert zu bedenken gegeben - und ist nicht mit Medikamenten zu leisten (weshalb der Doktor Dorn auch nur Baldriantropfen und Tee verschreibt, weil er weiß, die Heilung dieser Kranken muss woanders ansetzen): Es ist die zu überwindende Haltung der verinnerlichten permanenten Unzufriedenheit mit dem, was jeder Einzelne ist, ihm aber nicht groß und bedeutend genug vorkommt; es ist dieses sich den Horizont des Menschlichen mit dem erträumten Erfolg auf der Bühne der Welt zu verstellen, was die psychische Misere produziert. Nur die Schauspielerin ist zielstrebig und rücksichtslos geworden, was sie wollte: Sie hat ihren kleinen Triumph auf den Provinzbühnen gehabt - aber um den Preis, selbst zur pathetischen Figur geworden zu sein und das, was an Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Wärme in ihr war, durch eine Dauertheatralik verdrängt zu haben: eine innerlich zerstörte Frau, die ihren Halt nur noch an der eigenen Fassade findet.
Die gewissermaßen querformatige Bühne, schwarz und mit wenigen horizontalen Requisiten ausgestattet, erinnert visuell an das berühmte Gemälde der Nachtschwärmer (Nighthawks) von Edward Hopper: Menschen, die zusammen und doch allein sind, traurige Figuren der Moderne, aber dem Betrachter mit Empathie überantwortet. Wir treffen sie täglich - und nehmen sie nicht wahr, man spricht miteinander, redet aber aneinander vorbei. Und wenn es dann zum Selbstmord des einen kommt, der seine Depression nicht länger ertragen kann, so wird das diskret vertuscht: Die Gesellschaft wird durch den Schuss nur kurz aufgestört, dann setzt sie ihr Kartenspiel fort.
Die oft gestellte Frage, warum Tschechow seine Stücke Komödien und nicht Tragödien nannte, stellt sich hier gar nicht mehr. Die Möwe ist eine der großen Komödien des Menschlichen. Ein Angebot in Menschenkenntnis - und zugleich der unaufdringliche Vorschlag, eigene Haltungen und Wünsche zu überprüfen.
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