Bestürzend

Nicht versäumen Janaceks "Jenufa" in der Komischen Oper Berlin

Die Komische Oper Berlin hat eine historische Verpflichtung - und die heißt Walter Felsenstein. Für sein Verständnis vom Musiktheater, von dem die deutsche Operngeschichte der letzten Jahrzehnte mehr als von jedem anderen Regisseur geprägt wurde, war Janácek geradezu ein Kronzeuge für den gesellschaftlichen Auftrag der Kunst: nicht der zu leicht in Sterilität erstarrenden ‚Gesellschaftskritik´, sondern der seelischen Befreiung der Menschen. "Der Mensch," so schrieb er, "ist am einsamsten in den Erlebnissen und Empfindungen, an welche die Wissenschaft und die Ratio nicht heranreichen, denen er sich in seiner Sprache auch niemandem mitteilen kann. Es ist die vornehmste Aufgabe der Kunst und in ihr am ehesten der Musik, den Menschen von seiner Einsamkeit zu erlösen, ..." Und er fährt fort: "Keiner noch hat diese Dinge, für die es keinen Namen gibt, so direkt, so unmittelbar, so tief und nackt, so unmißverständich und bestürzend gesagt wie Janácek."

"Bestürzend": dieses große Wort für emotionale Erfahrung - hier wird es Ereignis. Das ist vor allem die Leistung des brillant musizierenden Orchesters der Komischen Oper. Jeder Takt wird hier zu einem einmaligen Erlebnis, jede Note zu einem strahlenden Mosaikstein im Gewebe des Ganzen, jede Fagott-Figur zum Solo - das ist geradezu Kammermusik vor allem der Bläser, die die Geschichte so plastisch erzählen, dass das Bühnengeschehen fast nur choreographierte Illustration der seelischen Spannungen und Konflikte ist. Eine Musik zu erfinden, die die menschliche Sprache in allen ihren Modulationen und Tonfällen so psychologisch genau wie nur irgend möglich wiedergeben könne, daran hat Janácek zeitlebens gearbeitet. Alles scheint sich in der Musik abzuspielen, aus dem Orchestergraben zu kommen - und hier, in der Komischen Oper, möchte es scheinen, als habe man dieses Werk noch nie vorher gehört, vielleicht, weil man sie gar nicht oft genug hören kann.

Der Donnerschlag, mit dem der zweite Akt - ein eiskalte Winterlandschaft - eröffnet wird: wie kann man den je wieder vergessen, und wie diese mit ungeheurer Spannung erfüllten dramatischen Pausen, die Petrenko in der Partitur entdeckt, die Abgründe erahnen lassen, über die uns dann aber doch die neu einsetzende Musik wieder tröstend hinweghilft. Oder die folkloristische Musik im Tanz der Bauern, die hier auf einmal alles Folklorische verliert, düster klingt und damit die moralische Doppelbödigkeit der Gesellschaftsmoral hörbar macht - auch da szenisch gewissermaßen eins zu eins übersetzt in eine böse Unordnung der choreographierten Ordnung eines Chores, der an die besten Zeiten Felsenstein´scher Massenführung erinnert.

Die Geschichte, um die es da geht, mag heute fast unverständlich, jedenfalls völlig irrelevant vorkommen - wenn da eben nicht die Musik wäre, die jene Gefühlsvereinsamungen anspricht, von denen Felsenstein schrieb und die die Zeit- und Ortsgebundenheit einer böhmischen Dorftragödie aus dem 19.Jahrhundert fast mühelos transzendiert. Dass Musik als Sprache und Medium versöhnen kann, wo die Institutionen versagen, das ist eine Einsicht, die mehr denn je aktuell ist und zur gesellschaftlichen Praxis in einer politischen Welt der Rache und Rechthaberei führen kann.

Dass Regisseur Willy Decker keine Routinearbeit abgeliefert hat, spürt man in jeder Szene. Das heißt nicht, dass jede Szene auch gelungen ist - zu oft gibt es unmotivierte Gestik und Bewegung, zu unentschieden ist er bisweilen zwischen naturalistischem und einer Art symbolischem Realismus, und die Schlussszene gerät hart an die Grenze monumentalen Kitsches. Aber das nimmt nichts Wesentliches von der großen Gesamtwirkung einer Ensemble-Leistung, die der Tradition der Komischen Oper aufs Schönste gerecht wird.

Aber apropos Tradition: Dazu gehört bekanntlich der feste Grundsatz, dass an diesem Hause alles in deutscher Sprache gesungen wird - das darf aus guten Gründen auch so bleiben. Und doch: Selbst in der ersten Reihe ist der gesungene Text nicht durchgängig verstehbar - und die Textverständlichkeit nimmt ab mit der Entfernung von der Bühne. Die Komische Oper sollte sich nicht zum Gefangenen der eigenen Prinzipien machen und den Mut haben, alle Texte, obwohl sie deutsch gesungen werden, wie in allen großen Opernhäusern auch elektronisch mitlesbar zu machen. Gerade für Janácek ist ja die musikalische Verkörperung von Sprache nahezu eine Strukturbedingung. Womit nichts von dem, was zuvor über die wortlose Sprachkraft dieser psychologisch subtilen Musik gesagt wurde, zurückgenommen werden soll.


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