Es war einmal, da galt es für selbstverständlich, dass ein Regisseur, der von der Gesellschaft dafür bezahlt wird, dass er unterhalte, bilde, aufkläre, dass er das Nachdenken provoziere, Gefühle freisetze, der Vernunft Aufgaben stelle, dass ein Theatermann also sich über den Stoff, den er uns präsentiert, Gedanken machte. Leider ist nur zu wenig von dem erhalten oder protokolliert worden, was an historischen, psychologischen, philosophischen oder soziologischen Problematisierungen in große Inszenierungen der Vergangenheit eingegangen ist, denen man die intellektuelle Vorarbeit dann zwar nicht ansah, wohl aber anmerkte. An den Maßstäben, die die Großen in den Theatermetropolen setzten - von denen glücklicherweise noch einige Wenige tätig sind - haben sich dann auch die anderen orientiert und zu messen versucht, und aus Respekt vor der verhandelten Sache damit ein Mindestmaß von Qualität bewahrt, auch unter weniger günstigen Rahmenbedingungen etwa eines ordentlichen Stadttheaters.
Leander Haußmann, der soeben Shakespeares Sturm am Berliner Ensemble inszenierte, steht seit langem für ein anderes, für ein "Spaßtheater". Viel Bewegung, Klamauk, schnelle Szenen- und Bilderwechsel mit viel Bühnentechnik sind bei ihm angesagt, ein lustiger Einfall jagt den nächsten, das Publikum soll nicht nachdenken, sondern mitlachen. Und Der Sturm scheint ihm dafür gerade die ideale Vorlage zu sein - mit Luftgeistern, Feen, Zaubertricks, einem undefinierten Halbmenschen, einer gestrandeten und verlorenen Hofgesellschaft, mit Blitz und Sturm und Wasser, so richtig etwas wie für Schikaneders Vorstadttheater, aus dessen Niederungen sich dann dank Mozart die Zauberflöte erhob. Haußmanns Theater geht den umgekehrten Weg. Er erniedrigt seinen Autor, indem er dessen komplexe Parabel aus der Höhe der Poesie und Einbildungskraft in das lärmige Spektakel einer albernen Show voller oberflächlicher Regieeinfälle herunterholt und diesen jede, aber auch jede Shakespearsche Bühnenmetapher zum Opfer bringt.
Die schönste dieser Metaphern findet sich im Epilog, wo Prospero das Publikum bittet, ihm das Verlassen der Insel zu ermöglichen, indem es durch seinen Applaus einen Wind erzeuge, der die Segel seines Schiffes zur Abreise füllen möge: "wo ihr begnadigt wünscht zu sein, laßt eure Nachsicht mich befrein". Gibt es ein poetischeres Bild für die idealische Stiftung von Gemeinsamkeit zwischen Bühne und Publikum als dieses? Da aber das überdimensionierte Heck der absegelnden Karavelle den vorgesehenen Bühnen-Schlusseffekt braucht, muss Prospero sinnwidrig zurückbleiben und langsam im dunklen Hintergrund verschwinden. Macht nichts - Haußmann hat´s auch nicht gemerkt. Auch der Text - es wird Schlegel-Tieck benutzt - wird wiederholt das Opfer solcher anbiedernder Erniedrigungen ("halt die Fresse"), und durch alberne Zwischenrufe wie "nackte Frauen!" soll die utopische Vision ins Lächerliche gezogen werden, die der brave alte Hofmann Gonzalo von einer Gesellschaft der absolut Gleichen hat, wie sie historisch Thomas Morus geträumt hatte - was auch um den Preis des Verständnisses dieser wichtigen Dimension des Stückes gelingt; dabei hatte Shakespeare das schon selbst so gesehen und dieser bedeutsamen Rede, ein Kernstück für das geistesgeschichtliche so gut wie das aktuelle Verständnis des Sturm, viel eleganter den Wind aus den utopischen Segeln genommen, indem er einen anderen Hofmann trocken kommentieren ließ: "Und doch wollte er König sein!"
Alles wird da eingeebnet und unkenntlich gemacht: Dass Shakespeare mit der gestrandeten Schiffsgesellschaft eine soziologisch sehr differenzierte Gruppe ins Spiel bringt - nichts davon bei Haußmann; in ihren uniformen Sommeranzügen sind sie alle austauschbar. Dass Caliban eine der umstrittensten und darum auch wichtigsten Figuren ist - irgendwo zwischen "edlem Wilden" und Kannibalen angesiedelt, aber zugleich einige der poetischsten Verse sprechend - das interessiert den Regisseur nicht, weil er nichts vom Kolonialismus-Diskurs weiß, der hier geführt wird; also wird er einfachheitshalber ein ungestaltes Monster. Dass mit Prospero die moderne gottähnlich herrschende Wissenschaft zur düsteren Endzeitvision wird und er die Notwendigkeit einer Umkehr zeigt - nichts davon wird hör- und nachvollziehbar in der Figur, wie sie Ezard Haußmann gibt, der sich mit würdigem Schreiten und schwungvollem Bogenschlagen seines Zauberstabes zufrieden gibt und eher nebenbei seinen Text aufsagt. Die Schauspieler tun, was ihnen aufgetragen wurde, teilweise eingezwängt in so unsinnige Kostüme wie dem Ferdinands, der zum Caliban-ähnlichen Tarzan rückentwickelt wird, oder wie der rätselhafte Luftgeist Ariel, dem der unförmig aufgeblasene Körper einer Botero-Figur verpasst wurde - nichts, aber auch gar nichts wurde hier versucht, sich dem Sturm zu stellen. Nicht einmal einen Anflug von Charme hat dieses sinnentleerte Spektakel.
Man könnte - und sollte vielleicht - diese Unsäglichkeit mit Schweigen übergehen, wäre da nicht das Grundsätzliche: Das Theater (und nicht zuletzt dieser Regisseur) werden teuer genug bezahlt; dafür hat es aber auch einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen, nämlich seine Sache ernst zu nehmen. Zwei, drei oberflächliche Lektüren einer der vielschichtigsten Shakespeare-Romanzen (und nicht zuletzt sein "Testament" als Stückeschreiber) haben dem Regisseur anscheinend genügt, um sie auf die Bühne zu bringen: Es war ihm wohl ohnehin nur um einige oberflächliche Knalleffekte zu tun, der Sturm lieferte dazu den Vorwand. Eigentlich erfüllt das den Tatbestand eines Verbrechens an der Ethik des Theaters. Dass ein auf diese Albernheiten mit fröhlichem Lachen reagierendes und am Ende laut applaudierendes (Premieren-)Publikum sich da zum Komplizen macht, sei nicht verschwiegen.
Besseres, ja im Vergleich geradezu Enthusiastisches ist da zu berichten aus dem neu errichteten kleinen Gartenhaus im Hofe des BE, wo George Tabori die Kriegsfibel szenisch präsentierte. "Fotoepigramme", wie Brecht sie nannte, waren eine der innovativen Formen, mit denen er experimentierte - hier sind es Fotos aus den Kriegsjahren, die er aufklebte und mit kommentierenden Vierzeilern versah: Denkanstöße, die das Bild in einen kritischen Widerspruch verwickeln. Die Kriegsfibel erschien 1955, ein Jahr vor Brechts Tod, inmitten ost-westlicher Rüstungswettläufe als ein kompromissloses Anti-Kriegsbuch - weshalb es von der DDR-Kulturpolitik nicht gerade gern gesehen, geschweige denn gefördert und auch in Westdeutschland eher ignoriert wurde.
Ich selbst erinnere mich sehr deutlich, dass es mir als begeistertem jugendlichen Brechtianer damals doch etwas zu weit zu gehen und zu grobschlächtig schien, unter die Fotos von sechs der bekanntesten deutschen Generäle wie Rommel oder Guderian den Vierzeiler zu setzen: "Das sind sechs Mörder. Nun geht nicht davon/Und nickt nicht, lässig murmelnd ein ganz recht´:/Sie zu entlarven kostete nun schon/An fünfzig Städte uns und ein Geschlecht." Aber die brutale Direktheit von "Das sind sechs Mörder" hat dann doch seine bohrende Langzeitwirkung entfaltet und mit dazu beigetragen, mich später und bis heute zum erklärten Antimilitaristen zu machen. Tabori belässt den Fotos und den Texten weitgehend ihre Autonomie: die einen werden an die Wand projiziert, die anderen von sechs Schauspielern dazu gesprochen oder gesungen - bisweilen etwas zu sehr mimisch agiert, was dann von ihrem Verständnis eher ablenkt. Zu einigen gibt es Musik von Hanns Eisler, sehr passend für das kleine Format des kurzen aber intensiven Abends mit dem Akkordeon begleitet. Nicht, dass da neue Dimensionen an dem großformatigen Buch entdeckt würden - aber wer kennt schon diese Kriegsfibel, und wer, der sie kennt, nimmt sie jetzt mal wieder aus dem Regal und lässt sich von Brechts Zorn auf die kriegerischen Verbrechen der Großen und seiner Empathie mit den Kleinen Leuten unter allen Regimen einen Kompass durch die vermeintliche neue Unübersichtlichkeit ausrichten?
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