Dieses Bühnenwerk steht außerhalb des Genres "Oper": Es ist das seismographisch sensible Denk- und Bekenntnisstück eines der großen geistigen Protagonisten des 20. Jahrhunderts aus dessen besonders finsteren Zeiten: Arnold Schönberg schrieb Textbuch und Musik in den Jahren unmittelbar vor der NS-Machtergreifung, deren furchtbaren Konsequenzen er sensibler als viele Künstler und vor allem Musiker seiner Zeit vorausgeahnt hat. Aber die Größe des Werkes besteht darin, dass man diese Umstände nicht wissen muss, um von der hier diskutierten Problematik auch heute geistig ergriffen zu sein - und man muss auch nicht von Schönbergs persönlichem Schicksal und seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum wissen, um zu verstehen: hier wird unsere Sache, die Sache der Moderne und ihrer Zukunft verhandelt.
Der biblische Stoff - die Begegnung Moses´ mit Gott, der von Aaron angestiftete Tanz um das Goldene Kalb während der 40-tägigen Abwesenheit Moses´, die Verkündung der Zehn Gebote - das ist nicht nur kodifizierter Bericht, sondern zugleich Mythos, der zum wiederholten Neuerzähltwerden einlädt. Sigmund Freud hat das in seinem Moses-Essay getan, Thomas Mann im Angesicht der geistigen Verwilderungen durch den Faschismus in seiner exemplarischen Erzählung Das Gesetz, und Schönberg gleich in mehreren Anläufen vor dem Hintergrund von Antisemitismus und Barbarei: Moses und Aron krönt diese Versuche, seine und unsere Zeit an die großen geistigen Maßstäbe der Offenbarungsreligion des Judentums zu erinnern, die mit dem Anspruch universaler Gültigkeit auftreten - eine Herausforderung, der sich die Staatsopern-Produktion in der Regie-Konzeption von Intendant Peter Mussbach bewusst stellt.
Der Moses Schönbergs ist nicht identisch mit dem der Bibel, vielmehr dessen Kritik, während dem biblischen Moses Schönbergs Aron-Figur (absichtlich nur mit einem "A" geschrieben) entspricht: Der ist pragmatischer Führer seines auserwählten Volkes, und um es als solches zu erhalten, ist ihm jedes Mittel recht - so auch das des Goldenen Kalbes, der Schaffung eines Götzen in schwieriger Zeit, um diesem Volk, das der geistigen Größe des mosaischen Gesetzeswerkes nicht gewachsen ist, ein Palliativ zu geben. "Ich liebe dieses Volk, ich lebe für es und will es erhalten." Aber mit eben diesem Ethno-Nationalismus richtet er dieses Volk zugrunde: Der zweite Akt, eben dem Tanz um den goldenen Götzen gewidmet, ist musikalisch und textlich Große Oper, und endet mit dem szenisch eindrucksvollen Triumph Arons über seinen Bruder Moses, der allein zurückbleibt mit seiner verzweifelt-einsamen Wahrheit vom unvorstellbaren, unaussprechlichen, unsichtbaren, ewigen und allgegenwärtigen Gott, von dem niemand etwas wissen will: Aron hat dem Volk das Opium der Bilder, des schönen Scheins, der sinnlichen Lust, der Paradieserwartungen, der Diesseitigkeit und der Verblendungen gegeben, und das Volk ist damit zufrieden - wir sind in unserer großen Mehrheit damit zufrieden, weil es der einfachere Weg ist.
Das Schlussbild gehört zum Eindrucksvollsten, was derzeit auf irgendeiner Bühne als Metapher für die Katastrophe der Moderne zu sehen ist: Das äußerlich gestürzte goldene Idol (das Programmbuch bringt die bekannten eindrucksvollen Bilder vom Sturze der großen Führermonumente, von Lenin bis Saddam) lebt fort in Form von vielen kleinen Fernsehapparaten, die der abziehende Chor, der an dieser Stelle aussieht wie eine kleine Armee von Bankern, zurückgelassen hat. Der Götzendienst wurde fragmentiert und reproduziert sich als Trash-Kultur, in dessen Mitte ein verzweifelt-resignierter Moses - "So bin ich geschlagen! So war alles Wahnsinn, was ich gedacht habe, O Wort, du Wort, das mir fehlt!" -, über den der Pragmatiker Aron triumphiert. Das wird hier auch szenisch so sinnfällig gemacht, dass sich die Frage nach dem Umgang mit dem nicht-komponierten dritten Akt gar nicht mehr stellt. Was Moses dort seinem Bruder vorhält - "Verraten hast du Gott an die Götter, den Gedanken an die Bilder, dieses auserwählte Volk an die andern, das Außergewöhnliche an die Gewöhnlichkeit" - das erzählt bereits dieser zweite Aktschluss mit großer Eindringlichkeit. Eine enge Lesart wird das als Schönbergs innerjüdische Kritik am zionistischen Projekt verstehen wollen, und damit - bis hin zu dem, was aus dem heutigen Israel geworden ist - nicht falsch liegen (Daniel Barenboim, dessen Dirigat seine Staatskapelle vom expressiven Fortissimo bis zur durchsichtigen Kammermusik führte, gehört bekanntlich selbst zu den artikuliertesten Kritikern israelischer Politik); eine weitere Lesart aber nimmt uns selbst in die Pflicht der versäumten Anstrengung des großen ethischen Gedankens des Dekalogs und seiner religiösen Begründung.
Dies ist ein Abend in der Oper, der nachgearbeitet, nachgedacht und nachgelesen sein will - zugleich aber eine Begegnung auch mit der Musik Arnold Schönbergs, die sich so selbstverständlich musikalisch ausspricht, dass sie gängige Vorurteile gegen ihren akademischen Charakter rasch widerlegt - schließlich ist sie nun auch schon 70 Jahre alt. Musbachs Inszenierung in einem ihr entsprechenden Bühnenbild hat sich für die radikale Entsinnlichung der Bühnenerzählung entschieden: Der riesige Chor, von Eberhard Friedrich brillant geführt und choreographiert, ist "Masse pur" (das Programmbuch thematisiert bei der Gelegenheit auch das sozialpsychologische Masse-Thema) und tritt in schwarz befrackter Einheitskleidung und -maske auf, von der sich auch Aron nicht und Moses nur geringfügig abheben. Die von Schönberg ausführlich geforderte szenische Aktion der Orgien und Menschenopfer findet nicht statt und wird von einer blind umhertastenden Menge zum abstrakten Vorgang gemacht - auf Kosten allerdings der Verständlichkeit für diejenigen, die das Textbuch mit seinen geradezu filmisch konzipierten Regieanweisungen nicht kennen. Aber man kann es verschmerzen - der optische Gewinn ist größer als der Verlust an Handlung. Auch das Bühnenbild - eine Art Tiefgarage mit ansteigender Ausfahrtrampe - trägt das Ganze und gibt ihm den Charakter des Oratoriums, so wie glücklicherweise der von Moses nur gesprochene, von Aron, den Solisten und vom Chor gesungene Text zusätzlich elektronisch mitlesbar gemacht wird.
Den Protagonisten einer Oper als Sprachrolle anzulegen, ist natürlich paradox, verweist aber auf ein strukturelles Problem der großen Botschaft dieses Kunstwerks: Wer sich von Gott kein Bild und keinen sprachlich vermittelbaren Begriff machen kann und will, der darf von ihm auch nicht singen - die dramaturgisch unverzichtbare Stimme Gottes wird von Schönberg darum auf mehrere Sänger verteilt. Aber macht das dann nicht eigentlich das Musiktheater selbst unmöglich? Das vielzitierte Wort Wittgensteins drängt sich da buchstäblich auf: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." So gesehen ist die Entscheidung für eine farblose, nämlich schwarze Bühne und die Einheitskostümierung ebenfalls eine interpretatorische Aussage zu der Botschaft von Schönberg-Moses: "Reinige dein Denken, lös es von Wertlosem, weihe es dem Wahren." Die von dem Ägyptologen Jan Assmann in jüngster Zeit zur Diskussion gestellte "mosaische Unterscheidung" (das Programmbuch enthält einen knappen Text von ihm zu dieser sehr aktuellen und folgenreichen Problematik) wird mit dieser Oper um eine wichtige Stimme bereichert.
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