Der gutachterlich verkleidete Krieg

MILITÄRKRITISCHER RATSCHLAG Wehrpflicht oder Berufsarmee - das ist nicht die Frage

"Noch nie war Deutschland so wenig bedroht", schrieb in Freitag 25 und fragte, warum das nicht als Chance für eine "umfassende Abrüstungs- und Rüstungskontrollinitiative" genutzt wird. Die Bundestagsabgeordnete , meinte hingegen, die NATO-Ostgrenze sei "durch die Verlegung nicht sicherer geworden", und auch hinter der Türkei drohten "große Krisen", die bei einem Verzicht auf die Wehrpflicht nicht bewältigt werden könnten. nahm dasselbe entgegengesetzt wahr: die Bundeswehr werde zu "Kriegen der NATO" hochgerüstet; daraus folgt für ihn, dass neben der Wehrpflicht auch die "bestehenden Interventionsverbände" abgebaut werden müssen. In Freitag 26 dachte über die Kriterien nach, mit deren Hilfe die Grünen klassisch-militaristische Interventionseinsätze der Bundeswehr verhindern wollen. Zunächst gab es die Überlegung, Einsätze an Zweidrittelmehrheiten im Bundestag zu binden, jetzt soll die einfache Mehrheit genügen. Warum die Aufweichung? In Freitag 27 schrieb , die von jenen Interventionsverbänden ausgehende Gefahr nehme bei einer Abschaffung der Wehrpflicht eher noch zu. - In der nächsten Ausgabe veröffentlichen wir ein Gespräch mit Angelika Beer, der militärpolitischen Sprecherin der Grünen.

Mit der Wehrpflichtfrage wird eine Scheindebatte geführt, die von der zentralen Frage - oder den zentralen Fragen - ablenkt und, so steht zu vermuten, auch ablenken soll. Wenn man bedenkt, dass einerseits kein unaufschiebbar-aktueller Entscheidungsbedarf besteht, und dass andererseits mit der Zukunft der Bundeswehr nicht weniger als die politische Verfasstheit der Bundesrepublik und in der Konsequenz auch die der EU auf dem Spiele steht, dann wird die Eile verständlich als Ausdruck der Befürchtungen vor den fast zwangsläufigen Weiterungen der Diskussion. Die Weichen sind nämlich bereits gestellt für ein bestimmtes politisches Profil der Union und der deutschen Rolle in diesem Machtkartell, und es ist darum völlig unerwünscht, dass sich dazu eine kritische, ja vielleicht doch ablehnende deutsche öffentliche Meinung formiert.

Die politische Klasse erinnert sich sehr wohl, welcher Salamitaktiken es bedurft hatte, um im Verlaufe von zehn Jahren schrittweise die politische Öffentlichkeit - einschließlich des Bundesverfassungsgerichts - dazu zu bringen, dass die Bundeswehr sich an Auslandseinsätzen überhaupt beteiligen konnte; "Kosovo", nunmehr sogar ohne völker- und verfassungsrechtliche Legitimiation, stellt sich aus dieser Perspektive nur beschränkt als ein qualitativer Sprung dar. Die politische Klasse dürfte sich auch daran erinnern, dass die Aufstellung der Bundeswehr selbst, also die "Wiederbewaffnung", nur im Handstreich und hinter dem Rücken einer renitenten Öffentlichkeit durchgesetzt worden war - ohne gründliche und ausführliche Debatte allein von der Bundesregierung, ja sogar nur vom Kanzler Adenauer selbst- "die Geschichte wird mich freisprechen" war das Motto des Fuchses von Rhöndorf. Seine Amtsnachfolger haben von ihm gelernt. Man darf dem Volk nie gleich mit der ganzen Wahrheit kommen!

Was ist diese "Wahrheit", die möglichst unausgesprochen bleiben soll? Sie ist vergleichsweise einfach und in der jetzigen Debatte auch hier und da ausgesprochen worden - aber eben nicht von denen, die ihre Entscheidungen längst getroffen haben. Sie soll hier in drei Punkten formuliert werden. 1. Die zukünftige Bundeswehr wird Teil einer europäischen Interventionsstreitkraft sein und verabschiedet sich damit völlig von irgendwelchen Landes-Verteidigungsfunktionen, die sie bisher vor der Öffentlichkeit legitimiert hatten. 2. Dieses wird eine Berufsarmee sein, selbst wenn für eine Übergangszeit noch Elemente der Wehrpflicht aus politisch-pädagogischen Gründen beibehalten werden. 3. Die Umrüstung wird zu einer beträchtlichen Steigerung der Militärausgaben führen, die nach Möglichkeit allerdings in anderen Ressorts verdeckt und versteckt werden, um die "Reform", die in Wahrheit ein tiefgreifender Strukturwandel ist, akzeptabel zu machen. - Dazu einige Begründungen.

Die Frage nach der Wehrpflicht ist insofern eine Frage von gestern, als die Bundeswehr ja bereits heute de facto eine Freiwilligenarmee ist: Wer nicht will, schreibt einfach eine Postkarte und wird, ohne tatsächlich auf irgendwelche Gewissensgründe geprüft worden zu sein, Zivildienstleistender. Angesichts der technologisch immer anspruchsvoller gewordenen Zerstörungs- und Tötungsapparaturen (euphemistisch "Waffensysteme" genannt) bedarf es dazu qualifizierter und gründlich ausgebildeter Experten. Hochkomplizierte Flugzeuge kann heute niemand mehr bedienen, der nicht eine professionelle Ausbildung gehabt hat oder der nur seine Wehrdienstpflicht ableisten will, und dasselbe gilt für fast durchgängig alle anderen Waffen gleichermaßen. Junge Männer (und Frauen) mit 16-, 12- oder nur 8-monatiger Ausbildung sind also bestenfalls für einfache Hilfsarbeiten der Logistik zu gebrauchen, nicht aber zur Bedienung der Killermaschinen. Militärisch sind die Wehrpflichtigen überflüssig geworden.

Darüber hinaus hat sich die Feuerkraft der Tötungssysteme in den letzten Jahren und Jahrzehnten progressiv vervielfacht. Ein Soldat von heute verfügt über ein Vielfaches der Zerstörungskapazität seines Vorgängers , so dass Personalquantität, die klassische "Übermacht", längst durch qualitative Überlegenheit (oder Unterlegenheit wie seitens der Irakischen Armee im 2.Golfkrieg) ersetzt worden ist - dort jedenfalls, wo es noch oder wieder auf echte Kriegsführung ankommt, wie etwa im Kosovo. Man kann das auch studieren am Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Krieg der russischen Armee in Tschetschenien: Wehrpflichtige sind heute eher ein Hemmschuh der militärischen Effizienz.

Das immer wieder vorgebrachte Argument von einer Berufsarmee, die kraft eigenen Gewichtes zu einem Staat im Staate und damit zu einer Gefahr für die Demokratie würde, hält einer genaueren Prüfung auch nicht stand. Ganz abgesehen davon, dass es die politischen Rahmenbedingungen unterschätzt, die solche Tendenzen fördern oder verhindern können (die chilenische Armee war immer eine Wehrpflichtigenarmee - und hat doch geputscht; Großbritannien hatte immer eine Berufsarmee - und kam nie auch nur in die Nähe von Staatsstreich-Ambitionen): der stabile "Kern" der Bundeswehr besteht bereits heute aus Berufssoldaten, ist aber gleichzeitig doch so differenziert (Drei-, Fünf- oder Zehn-Jahresverträge), dass ein ständiger Austausch mit der Gesellschaft stattfindet, also nur ein kleiner Teil beruflich bis zum 60.Lebensjahr hier arbeitet und jene militaristische Standesidentität entwickeln kann, die zum "Staat im Staate" gehört. Um militaristische Haltungen und Einstellungen auszubilden, bedarf es ohnehin nicht eines Militärapparates: das kann auch unter Wehrpflichtbedingungen erfolgreich geschehen, wie wir aus der preußisch-deutschen Erziehungsgeschichte wissen.

Die Feststellung, dass die geplante Bundeswehrzukunft die einer europäischen Interventionstruppe sein soll, resultiert nicht nur aus den verfügbaren Vorgaben der Regierung und des "Verteidigungsministeriums", sondern aus der deutschen und europäischen politischen Lage selbst. Jeder weiß schließlich, dass sich die Frage einer deutschen Territorialverteidigung überhaupt nicht mehr stellt - sie bestand real nur unter den Bedingungen der deutschen und europäischen Teilung. Sofern Territorialschutz in Europa überhaupt noch ein einzelstaatliches Problem ist, genügte dafür ein jeweiliger Bundesgrenzschutz oder eine nationale Polizei. Für die Bundeswehrbegründung einer vermeintlichen "Bündnisverteidigung" gibt es kein realistischen Szenarios vorstellbarer Angriffe auf das EU- oder NATO-Territorium. Und welches wären dann die zu verteidigenden Grenzen? Das würde fast zwangsläufig zu geostrategischen Konstruktionen führen, die eine Wiederauflage des nationalsozialistischen Großraumprojektes implizierten, das sich einst "vom Atlantik bis zum Ural" erstrecken sollte... Wenn trotzdem an der Institution Militär festgehalten wird, dann hat das jedenfalls für das "von Freunden umzingelte" Deutschland nur Sinn als Beitrag zu einer europäischen Truppe, die ihrerseits für Interventionen außerhalb des Grenzbereichs der EU eingesetzt werden kann.

So weit sind wir noch nicht - aber wenn schon europäische Territorialverteidigung nicht der strategische Zweck des Bundeswehrbeitrags zum europäischen Militär ist, dann bleibt letztlich nur die Interventionstruppe als Zweck und Ziel der zukünftigen Bundeswehr. Die "Kommandospezialkräfte" (KSK), deren deutscher Anteil auf etwa ein Drittel veranschlagt ist, sind nun einmal nur als Kriegsführungswaffe tauglich. Ihr zukünftiger Einsatz - das machte die Intellektuellen-Debatte um den Kosovo-Krieg erschreckend deutlich - wird vorbereitet durch einen gar nicht deutlich genug auszusprechenden "Paradigmenwechsel" des politischen Diskurses, durch einen Tabu-Bruch: Auch Gegner der Kosovo-Intervention verurteilten diese vielfach aus taktischen, nicht aber aus strategischen Gründen - auf einmal ist, gewissermaßen unreflektiert und durch die Hintertür, der Krieg als Mittel der Politik wieder legitimiert (nur eben dieser Krieg sei ein Fehler...).

Für die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik war in öffentlicher Meinung und wissenschaftlichem Diskurs der Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich ausgeschlossen - was kein Augenverschließen vor der Realität der "heißen Kriege" während des Kalten Krieges bedeutet hatte. Jetzt auf einmal wird er als Mittel wieder denkbar, ist der Krieg wissenschaftlich und intellektuell auch bei Kritikern wieder hoffähig. Insofern ist da der Boden für die nächsten europäischen und/oder NATO-Interventionskriege geistig bereits vorbereitet.

Entsprechend ist auch in der militär-kritischen öffentlichen Meinung so gut wie kein Raum mehr für die doch eigentlich naheliegende Frage: Brauchen wir denn überhaupt noch das Militär? Von der realpolitisch ohnehin bereits jedes Kant'schen Mutes, "sich des eigenen Verstandes zu bedienen", entwöhnten politischen Meinungsbildung ganz zu schweigen. Das Denkverbot, die Tabuisierung der Frage nach einem "Ob" statt des lediglich erlaubten "Wie" der zukünftigen Bundeswehr lässt sich deutlich am sogenannten "Weizsäcker-Gutachten" festmachen, das den erfolgten Paradigmenwechsel auf jeder Seite handgreiflich macht: Kaum ein Wort, das so häufig vorkommt wie das der "Einsatzfähigkeit". Mit der größten Selbstverständlichkeit ist da die Rede von der "Befähigung zur Seekriegsführung" - nichts von "Verteidigung": auch die Marine muss Krieg führen können, und zwar indem da dunkel geraunt wird von der deutschen Abhängigkeit von der "kontinuierlichen Einfuhr vieler Güter", von "Rohstoffen" und natürlich "Erdöl". Was noch vor zehn Jahren empört von einer aufgestörten öffentlichen Meinung kritisiert wurde - die vorsichtige Andeutung militärischer Rohstoffsicherung -, geht heute unprotestiert durch, und man muss Ex-Generalinspekteur Naumann mit Bitterkeit zustimmen, wenn er das voller Befriedigung als Symptom deutscher Normalisierung interpretiert.

Für völlig "absurd" und "abwegig" hält der Verteidigungsminister Scharping etwa die Überlegung einer militärischen Arbeitsteilung des Bündnisses, indem man die "Seekriegsführung" den dafür besser ausgerüsteten französischen oder englischen Flotten überlässt - "wir" können doch nicht den Schutz "unserer" Seewege anderen überlassen. Und mit ebensolcher Selbstverständlichkeit ist nun in klassischem Sprachgebrauch des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts von der "Friedensstärke" der Bundeswehr die Rede - womit gesagt wird, dass es auch eine mobilisierbare "Kriegsstärke" (vermutlich heißt das dann "Krisenstärke") geben muss, Krieg also - früher oder später - wieder zu erwarten ist. Aber schon jetzt kehrt er gutachterlich verkleidet in unser politisches Denken ganz selbstverständlich und fast unbemerkt zurück. Künftige deutsche Regierungen sollen wieder Krieg führen können - und zwar nicht zu knapp: "Messgröße für die neue Bundeswehr ist die Fähigkeit zur gleichzeitigen und zeitlich unbefristeten Beteiligung an bis zu zwei Kriseneinsätzen."

Die entscheidende Frage lautet: Ist diese Entwicklung zur weltweit einsatzfähigen professionellen Interventionstruppe als Mittel europäischer Außenpolitik noch aufzuhalten? Nützt die analytische Enthüllung des eigentlich gar nicht mehr Verborgenen, damit eine qualifizierte öffentliche Meinung aufgerüttelt werde gegen diesen Rückfall in eine militarisierte Moderne? Nützt die Debatte noch? Die Antwort darf nur heißen : Ja. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten eines Erfolges muss sie so lange und so laut wie möglich geführt werden. Aber auf welchem militärkritischen Resonanzboden? Die Grünen sind als Partei offensichtlich so gut wie ausgefallen. Aber noch gibt es viele Hunderte von friedenspolitischen Initiativen, gibt es die "BoA" (Bundesrepublik ohne Armee), gibt es intellektuelle Widerständler (einige von ihnen werden seit Monaten mit Prozessen und Berufungen der Staatsanwaltschaft gegen Freisprüche in Sachen Kosovo-Desertionsaufruf traktiert und einzuschüchtern versucht), aufrechte Pazifisten, militärkritische studentische Arbeitskreise, gibt es liberale und auch linke Publizisten, für die das bundesrepublikanische "Nie-wieder-Krieg"-Selbstverständnis der 50 Nachkriegsjahre keine Jugendtorheit ist. Eine Bündelung dieser Bundeswehrkritiker ist gefragt, ein großer militärkritischer "Ratschlag", vielleicht ein Kongress, ein unterschreibbares Manifest der Warnung, Druck auf die Medien, damit sie sich der qualifizierten Kritik öffnen und den Paradigmenwechsel nicht durch Eingewöhnung mitvollziehen, eine Erinnerung an die deutsche Geschichte und die zivilistischen Traditionen der Bundesrepublik, eine inhaltliche Füllung des oft zu leichtfertig benutzten Begriffes von der "Zivilgesellschaft". Es darf nicht die Flinte fatalistisch ins Korn geworfen werden, wo es doch darauf ankommt, die wirklichen Flinten ins wirkliche Korn zu werfen, damit sie dort verrosten und von den zu Pflugscharen umgeschmiedeten Schwerten untergepflügt werden.

Man darf sich sogar bei der unverzichtbaren eigenen Antwort auf die legitimen Sicherheitsfragen auf den Weizsäcker-Bericht berufen, wo es heißt, Deutschland solle "auch zivile Polizeikräfte für internationale Friedenseinsätze bereithalten. Die bereits vielerorts in Europa bestehenden Ausbildungszentren für VN-Friedensoperationen sollten gemeinsam genutzt werden." In dieser Perspektive könnte und sollte ein deutscher Beitrag zur europäischen Sicherheitspolitik diskutiert werden - und eine solche Debatte hat noch nicht einmal angefangen.

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