Peter Stein hat seine faustische Wette gewonnen. Mit einer Hartnäckigkeit und Unbeirrbarkeit sondergleichen gegen die größten Widerstände von allen Seiten - angefangen bei seinem eigenen Schaubühnen-Ensemble, das ihm deswegen Mitte der achtziger Jahre die Gefolgschaft aufkündigte, über die finanzielle Verweigerung von Bund und Ländern, bis hin zu einem zunehmend feindseligen Feuilleton, das ihm unterstellte, eine nachlassende schöpferische Kreativität mit Größenwahn zu kompensieren - hat er nach fast zwanzig Jahren dieses einzigartige Projekt wie der bergestemmende Seismos der Klassischen Walpurgisnacht (»Einmal noch mit Kraft geschoben,/ Mit den Schultern brav gehoben!/ So gelangen wir nach oben,/ Wo uns alles weichen muss.«) vollendet. Jetzt schreibt es Theatergeschichte - ob es auch deutsche, um nicht zu sagen europäische Geistesgeschichte schreiben wird, das hängt von uns, dem Publikum, der Öffentlichkeit ab, der gesellschaftlichen Bereitschaft, sich Goethes Werk und Wahrheit zu stellen.
Der Faust ist nicht lediglich eines von vielen Werken Goethes: Es ist vielmehr »die welthaltigste Dichtung der neuzeitlichen Literatur«, so der Faust-Kommentator Albrecht Schöne, und, darüber hinaus das Werk mit der längsten Entstehungsgeschichte in der Biographie eines Einzelnen, der von diesem »Gebäu«, das er »über sechzig Jahre ... immer sachte neben mir hergehen« ließ, sagte, es sei eigentlich ein Kollektivprodukt, die Summa der Erfahrungen und des Wissens, der Traditionen und Erinnerungen »von drei tausend Jahren« Menschheitsgeschichte und -weisheit.
Eben wegen dieser Bedeutungsschwere und -fülle des die Theaterdimensionen sprengenden Dramas galt vor allem der größere zweite Teil immer als im Ganzen unspielbar und gar nicht für die Bühne geschrieben. Diejenigen, die es trotzdem bisweilen versuchten, konnten sich bei der Unspielbarkeitsbehauptung sogar auf freundlich-abgeklärte Bemerkungen Goethes selbst berufen, der ja nicht einmal den zu Lebzeiten publizierten Teil I in seiner Zeit als Direktor des Weimarer Theaters auf die eigene Bühne gebracht hatte.
Als aber Peter Stein jenen Text genauer als jeder Regisseur vor ihm las, entdeckte er sozusagen auf jeder Seite den Theatermann Goethe: Auch und gerade die poetisch höchst komplizierten Figurenkonstellationen der mythologisch verschlüsselten Klassischen Walpurgisnacht stecken voller ganz konkreter Regieanweisungen und Verweisen an die Schauspieler. Und er hat sie alle ans Licht gebracht. Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass es derzeit - mit der möglichen Ausnahme der beiden wissenschaftlichen Kommentatoren Albrecht Schöne und Dorothea Hölscher-Lohmeyer - keinen Menschen in Deutschland gibt, der den riesigen Faust-Text so gut und gründlich kennt wie Peter Stein. Das aber war und ist die entscheidende Voraussetzung dafür, diesen nunmehr so klar und übersichtlich, so transparent und nachvollziehbar auf der Bühne zum Leben erweckt zu haben. Und es ist das lebendigste Theater, das man sich vorstellen kann - alle zukünftigen Faust-Aufführungen werden daran gemessen werden, so wie es bisher mit der Gründgens-Inszenierung der Fall gewesen ist (deren breite Striche aus der »Stein-Perspektive« den Verdacht bestätigen, dass es da immer vor allem um die Rolle des Mephisto und nicht um die Sache des Faust gegangen war).
Was wir im zweitägigen »Marathon« - oder über sechs Abende verteilt - zunächst einmal erleben, ist eine Reise durch die gesamte Theatergeschichte als Bühnengeschichte: Alles, was es an möglichen Bühnenformen gibt, wird hier für die Fülle der Stationen, die Faust auf seinem Gang durch »die kleine und die große Welt« zu durchlaufen hat, in immer neuen Spielstätten vorgeführt und dem Publikum sinnlich erfahrbar gemacht: Das klassische Amphitheater und die Guckkastenbühne, das Bretterpodest der Jahrmärkte und das intime Kammerspiel, das barocke Hoftheater und die große Arena, das Spiel mitten im Publikum und das Festzelt mit gedeckten Tischen. Die einzige historische Form, die zu fehlen scheint, ist die elisabethanische Shakespeare-Bühne - aber der Schein trügt, denn letztlich summieren sich alle diese Bühnen zu einem großen Globe, sind wir doch wie in London ständig in hautnahem Kontakt mit den Schauspielern in unserer Mitte, ist dies dort, wo es die Sache legitimiert, ein besonders kommunikationsintensives »Theater zum Anfassen«, wo das Publikum, ganz wie im Shakespeare-Theater, sich aktiv einmischen darf und soll - Theater total. Immer nimmt Stein Goethes direkte und indirekte Regieanweisungen beim Wort - und fährt gut dabei. Der grobe Klamauk des Straßentheaters wird ebenso wenig gescheut wie der Einsatz raffiniertester moderner Bühnentechnologie zur Erzeugung spektakulärer Effekte - ganz so, wie es Theaterdirektor Goethe im Vorspiel empfohlen hatte: »Drum schonet mir an diesem Tag / Prospekte nicht und nicht Maschinen./ Gebraucht das groß' und kleine Himmelslicht,/ Die Sterne dürfet ihr verschwenden;/ An Wasser, Feuer, Felsenwänden,/ An Tier und Vögeln fehlt es nicht.« Und so wie Goethe die verschiedensten Versformen dem genauen Hinhören bemerkbar dramaturgisch gezielt einsetzt, so spielt Stein dieses Welttheater in einer Vielzahl von Stilen und Kostüm-Epochen: Antikisch oder mittelalterlich, opernhaft oder vulgär, mit hohem Pathos oder naturalistisch, karnevalesk oder streng - selbst japanisches No- und süditalienisches Marionettentheater werden zitiert, wo sie die besten Lösungen bieten.
Es gibt auch viel zu lachen in diesem Faust - zu lachen über den dialektischen Sprachwitz und die Fülle der Pointen, insbesondere da, wo sich das scheinbar sprichwörtlich Bekannte in neuer Wendung zeigt. Andere, als besonders komödiantisch bekannte Szenen sind plötzlich überhaupt nicht mehr naiv-lustig - wie die deutsch-nationalistischen Saufbrüder in Auerbachs Keller.
Überhaupt die Sprache: Ein Hörvergnügen der höchsten Art. Dabei lassen sich die SchauspielerInnen in keinem Augenblick von der Sprachmelodie tragen und verführen - Stein hat darauf insistiert, immer und in jeder Zeile auf Sinn hin zu sprechen, denn letztlich ist es ja der Text, der dieses theatralische Unternehmen legitimiert.
Dabei entsteht vor allem für den zweiten Teil des Faust ein Problem ganz ähnlich dem, das sich im Verhältnis von Musik zu Text in der Oper seit je gestellt hat - hier nun als das Verhältnis von hoch poetischer Sprache und ihrer schauspielerisch-sinnlichen Verdinglichung. Steins szenische Realisierungen haben das Wunder fertiggebracht zu zeigen, dass die Goetheschen Verse durch ihre bildliche Übersetzung eine Transparenz und Sinnhaftigkeit erhalten können, wie sie sich bei der bloßen Lektüre nicht einzustellen vermögen. Das liegt nicht nur an der großen Sprechdisziplin und der stimmlichen Projektionsfähigkeit der SchauspielerInnen, sondern auch an den oft genialen Bühnenlösungen, die Stein gerade für die schwierigsten Szenen - wie die der Klassischen Walpurgisnacht - gefunden hat. Atemberaubend der Delphin-Ritt des Homunculus auf dem Wege in das lebensspendende Wasser, aus dem sich Galatea in Botticellischer Schönheit erhebt; von der mit Donnerklang tönend aufgehenden Sonne wird nicht nur Faust, sondern werden auch wir geblendet; der Tod des Euphorion ist so dramatisch, dass der Absturz für Sekundenbruchteile wie ein plötzliches Versagen der Bühnentechnik aussieht; der Kentaur Chiron dreht sich in einem Fahrgestell mit klappernden Hufen und der polyphon-wortlose Gesang der Sirenen macht ihre unwiderstehliche Verführungskraft wunderbar glaubwürdig - wie überhaupt die unaufdringliche, sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzte Bühnenmusik besonders gewürdigt zu werden verdient. So läuft dieser Faust ausgerechnet in seinen vermeintlich »unspielbaren« Teilen zu seiner größten Form und Ausstrahlungskraft auf.
Natürlich kann man nicht alles verstehen, was man akustisch versteht. Deshalb ist auch das sorgfältig gestaltete Programmbuch, das - neben analytischen Beiträgen und vielen Photos - die Überlegungen, die in jeden Akt und die einzelnen Szenen eingegangen sind, vorstellt, eine unverzichtbare Quelle produktiver »Nacharbeit«. Damit aber sind wir bei dem eigentlichen Problem dieses Theaterereignisses.
Steins Hoffnung und Erwartung war es gewesen, dieses testamentarische Werk Goethes derart der Öffentlichkeit auszusetzen oder diese Öffentlichkeit derart spektakulär mit diesem Werk zu konfrontieren, dass es Debatten auslöst über zumindest einige der großen Themen, die hier verhandelt werden und von deren Bearbeitung unsere gesellschaftliche, geistige und physische Zukunft abhängt. Um Geschichte geht es da, um die Zeit und die Prozesse der Beschleunigung, um die Folgen einer virtuellen Ökonomie, um die Konsequenzen der Zerstörung von Individualität und Eigensinn, um Natur und Naturzerstörung durch Industrialisierung - aber auch um die »Gretchenfrage«, was denn letztlich wesentlich ist an unserem Tun und unserer Existenz. Faust, der rücksichtslose Unternehmer und Sklaven-Ausbeuter, der sich selbst mit der Behauptung in die Tasche lügt, er hätte alles nur getan, um »auf freiem Grund mit freiem Volke (zu) stehn«, der den vermeintlichen Erfolg seines Kolonisierungsprojekts und den Triumph der Macht zum »höchsten Augenblick« erklärt, während es doch tatsächlich der letzte, schlechte und leere Augenblick ist, wie Mephisto mitleidig und geradezu desillusioniert über die Wesensblindheit des rastlos tätigen Mannes feststellt. Hier steht die ganze europäische Menschheitsmoderne auf dem Prüfstand.
Aber ein auch nur entfernt adäquates öffentliches Echo auf Goethes so anschaulich sichtbar gemachten poetisch-geheimnisvoll-offenbare Weitsichten, ist bisher völlig ausgeblieben. Solches Unverständnis schon für seine Zeitgenossen ahnend, hatte Goethe bekanntlich den abgeschlossenen Faust eingesiegelt, um, wie er in seinem letzten Brief eine Woche vor seinem Tode an Wilhelm von Humboldt schrieb, nicht miterleben zu müssen, wie »meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden.« Die gesammelten Kritiken nach der Expo-Premiere im Juli lesen sich fast ausnahmslos wie Belege für Goethes Befürchtungen.
Anscheinend hat sich kaum ein Kritiker die Mühe gemacht, das eigene Urteil durch den Besuch einer zweiten Vorstellung möglicherweise zu korrigieren. Die kurzen Nachberichte anlässlich der Berliner Eröffnung in der vergangenen Woche waren auf denselben Ton gestimmt - ohne den nicht enden wollenden Beifall des Publikums zur Kenntnis zu nehmen, das seine Begeisterung sicht- und spürbar zur Schau trug.
Die zu leistende öffentliche Auseinandersetzung mit den großen Goethe/Faust-Themen: Geschichte, Zeit, Politik, Natur, Kunst wäre zu erweitern um eine Diskussion über die Kriterien der Theaterberichterstattung und die Funktion von Theater generell. Es möchte scheinen, als liege der herablassenden »Stein-Kritik« weniger persönlichkeitsorientierte Motivationen zugrunde, als vielmehr ein Generalangriff auf ein Verständnis von Theater, welches - gegen den postmodernen Zeitgeist - hartnäckig am Primat des Textes festhalten will und sich diesem verpflichtet sieht. Und ein Text wie der des Faust ist dekonstruktivistisch einfach nicht zu haben, ebenso wie sich das lebendige Zeugnis »Goethe« dem versuchten Zugriff aller Enthüllungen immer wieder erfolgreich entzieht.
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