Die Maske des Verrats Wo immer man mit dem Messer, dieser Lieblingsmetapher Heiner Müllers, seine Texte aufschneidet, hält man blutige Fragmente in der Hand: Fragmente der ...
Wo immer man mit dem Messer, dieser Lieblingsmetapher Heiner Müllers, seine Texte aufschneidet, hält man blutige Fragmente in der Hand: Fragmente der Revolution, Fragmente des Lebens, Fragmente des Todes - Produkte der Gewalt in der Geschichte. Von den deutschen Dichtern hat vor ihm nur Georg Büchner so gelitten unter ihrem "gräßlichen Fatalismus": Der hatte die drei Jahrzehnte zuvor gescheiterte Französische Revolution zum Anschauungsmaterial; mit 1,3 Millionen Toten, fünf Prozent der Bevölkerung, war sie noch vergleichsweise wenig blutig. Müller und wir haben inzwischen zwei Jahrhunderte mit Hekatomben von Revolutionsopfern hinter uns: Mexiko 1910/34: 2 Millionen, 12 Prozent der Bevölkerung; Russland 1905/38: 16 Millionen, 10 Prozent; Chi
China 1949/76: 60 Millionen, 10 Prozent; Kambodscha 1975/79: 7 Millionen, 35 Prozent. So zählte sie Andreas Kriegenburg auf im Programmheft zu Revolution!, seiner ganz schlichten und darum um so eindrücklicheren Inszenierung in weißer Guckkastenbühne am Akademietheater Wien, 2001. Müllers Auftrag ist eine Art Requiem auf ein Zeitalter, in dem Menschen noch politische Hoffnungen hatten und die Kraft für gesellschaftliche Veränderungen aufbrachten. Drei Männer erhalten da von der jungen Revolutionsregierung in Paris den Auftrag, in Jamaika einen Sklavenaufstand im Namen von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" gegen die englische Kolonialmacht zu organisieren; ehe sie mit der "Arbeit" beginnen können, wird das Unternehmen wieder abgesagt, weil inzwischen Napoleon die Revolution gezähmt hat und ein Friede mit England geschlossen werden soll; die drei Revolutionäre in der fernen Karibik sind politisch heimatlos geworden. Wurden sie verraten? Wurde die Revolution verraten? Von Napoleon? Oder von den Revolutionären selber? Ist in der Revolution der Verrat schon angelegt? Versetzt der Erfolg ihr den Todesstoß? Tötet eine erfolgreiche Revolution die Revolutionäre? DIE REVOLUTION IST DIE MASKE DES TODES DER TOD IST DIE MASKE DER REVOLUTION. Ehe in Berlin die rostfarbige Bühne langsam, extrem langsam ausgeleuchtet und von weit hinten der erste Text gesprochen wird - der Brief des sterbenden Bauernrevolutionärs, der den Auftrag an seinen Auftraggeber zurückgeben will -, da hören wir den anschwellenden Lärm der Geschichte, den Müll, den sie ins Akustische übertragen anhäuft, die Sinnlosigkeit als Geräusch; am Schluss wird es wiederkehren. Eine Trümmerlandschaft, verbrannt, Mauerreste, Erdschollen, nach hinten streng abgegrenzt durch rechteckige Wandstücke einer sachlichen Moderne, die von einem gestürzten goldenen Pferdestandbild, Podest irgendeines Großhelden, kommentiert wird (Bühnenbild: Erich Wonder). Die Protagonisten stehen, gehen und springen da herum, bewegen sich ohne sichtbare Choreographie, oft, wenn sie nichts zu sagen haben, mit dem Rücken zum Publikum. Ein "Engel der Verzweiflung" spricht Rätselhaftes und Tiefgründiges: "Ich bin das Messer, mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen." Und in Bruchstücken, die wir uns zusammensetzen müssen, erzählen die drei ihre Geschichte. Vor allem aber spielen sie Theater, Theater im Theater: Nicht nur weil sie sich um ihrer subversiven Arbeit willen verstellen müssen, sondern auch, um sich im Schutze der Maske ihre Wahrheiten über einander ins Gesicht zu sagen - der einstige Bauer Galloudec (Ekkehard Schall) über den bürgerlichen Intellektuellen, der Ex-Negersklave Sasportas (Florian Lukas) über die Weißen, der zum Revolutionär mutierte Großbürger und Intellektuelle Victor Debuisson (Herbert Knaup) über beide und sich selbst. Und natürlich spielen sie auch Danton und Robespierre à la Büchner. Allein der Anführer trägt keine, er "ist" seine Maske - und wird deshalb und damit später zum Verräter. Den ersten Verrat hatte er an seiner Ersten Liebe begangen, die wie eine antike Seherin (auch sprachlich großartig: Inge Keller) an Krücken langsam den ganzen Bühnenraum durchschreitet und ihre in die Vergangenheit gerichtete Vision als Prophetie der Wiederkehr der alten Ordnung ausspricht: "Der kleine Victor hat Revolution gespielt... Zurück in die Geborgenheit der Sklaverei... Freiheit wohnt auf ihrem Rücken, die Gleichheit unter dem Beil." So ist der zweite Verrat, der an der Revolution und ihren großen Versprechungen, vorprogrammiert. Nur äußerlich, "weil in Paris einen General der Hafer sticht. Er ist noch nicht einmal ein Franzose", tatsächlich aber, weil der Verrat eine existenzielle Kategorie ist, weil er enthalten ist in der Welt, im Lebendigsein selbst; wer lebt, verrät. "Ich habe Angst,", so Debuisson, "vor der Schönheit der Welt. Ich weiß gut, dass sie die Maske des Verrats ist. Ich fürchte mich vor der Schande, auf dieser Welt glücklich zu sein." Diese Texte haben es in sich. Sie transportieren keine Handlung, sondern sind Tiefenauslotungen. Sie zu sprechen ist eine Kunst. Nur wenn es sich vermitteln lässt, dass hier keine Geschichte als marxistisches Lehrstück erzählt wird, sondern gewissermaßen lauter schwer analysierbare Akkorde zum Tönen gebracht werden, dass dies ein andersartiges Hören und Sehen erfordert und, zumindest beim ersten Mal, nur einzelne Intervalle und Tonkombinationen der lautstarken Cluster verständlich sind, nur dann wird man einen Zugang zu dieser poetischen Dramatik finden. Brechts Kunstsprache auf der Bühne zu sprechen ist weitgehend wieder verlernt worden; den Brecht-Schüler Müller zu sprechen, muss überhaupt wohl erst noch gelernt werden. Seine Texte als neutrales Bühnendeutsch zu hören, verflacht sie und nimmt ihnen ihre Vieldimensionalität, ihre fast immer schwer entzifferbare Tiefe und Doppelbödigkeit. Inge Keller kann das meisterhaft - und darum kommt sie auch ohne aufwendige Schauspielerei aus: Da sitzt und trifft jedes Wort. Dasselbe gilt für Udo Samels völlig unaffektiert und intensiv gesprochenen großen Monolog des "Mannes im Fahrstuhl" auf dem Weg zu seinem Auftrag. Wie ein Fremdkörper - er erinnert an Kafkas Parabeln - drängt sich dieser Text in das Stück, holt es plötzlich in die Gegenwart und macht die exportierte Revolution zur bürokratischen Anweisung aus einer Chefetage (ist die "Nummer Eins" Stalin? Oder Honecker? Oder ein kapitalistischer Manager-Anonymus?). Unvermittelt finden wir uns "auf einer Dorfstraße in Peru", an der Peripherie der Industriegesellschaften. Müllers Stück erschien zuerst 1979 in einer der der Dritten Welt gewidmeten Sondernummer von Sinn und Form. An Stellen wie dieser, wo die Inszenierung nur auf die Sprache setzt, hat sie ihre stärksten und dichtesten Momente. Aber das sind nicht viele - und vor allem eben sind nicht alle Darsteller dieser Sprache gleichermaßen gewachsen. Die Inszenierung Ulrich Mühes, die bei allem Aufwand fast völlig auf szenische und kostümtechnische Verdeutlichungen verzichtet, macht diese Schwäche noch zusätzlich deutlich. Vor allem verzichtet der Regisseur völlig auf das In-Szene-Setzen der vielleicht zentralen theatralischen Idee, aus der Der Auftrag lebt: Das ständige Spiel im Spiel, die dauernde Maskerade als nicht nur Teil, sondern als das Wesen der Revolution in allen ihren Dimensionen. Aus diesen Verstellungen geht nämlich nicht zuletzt dann zwangsläufig der Verrat hervor. Wer das Maskenspiel nicht durchhält, ist verloren - aber wer es durchhält, ist auch verloren, obwohl oder weil er überlebt. Auf einmal sind wir, die Überlebenden der Revolutionen, alle Debuissons, alle Verräter - und Heiner Müller wäre der erste, der sich dazu bekennen würde. Nur ist es die Frage, ob diese bittere Botschaft gehört wird. Vor vier Jahren hat eine australische Truppe, The Aboriginal Protesters, in einer aufregenden Adaption gezeigt, welche expressive Kraft der Verzweiflung in diesen Texten stecken kann, wenn Betroffene sie sich aneignen und darin ihre selbst mitverschuldete Opferlage erkennen. Hier aber wird, beginnend mit dem Programmheft im Hochglanzformat, dieser Text über die Tragik des Verrates verraten, weil er ein schmerzhaftes Nachdenken darüber gar nicht aufkommen lässt. Das ist mehr als nur der bittere Preis, den man anscheinend heute für den Markterfolg einer politisch motivierten Theaterproduktion zu zahlen hat: Diese Verpackung in Sponsoren, diese Maskerade und das dazugehörende Schickeria-Publikum, das von der erfolgreichen Werbung ins Haus der Berliner Festspiele gelockt wird, sie sind allesamt tödlich für Müllers leidenschaftliche Ernsthaftigkeit, indem sie daraus ein gesellschaftliches Ereignis, ein "Event" machen. Unfreiwillig und doch nicht zufällig wird da das Wesen unserer toten Gesellschaft und ihrer herrschenden Klasse so sichtbar, wie Müller es in der Figur des überlebenden Verräters Debuisson, der seitdem die kapitalistische Revolution und die Globalisierung vorantreibt, hat Gestalt werden lassen: "Das Elend mit euch ist, ihr könnt nicht sterben", ruft ihm der Ex-Sklave Sasportas zu, der sinnlos kämpfend schließlich aufgehängt wird. "Darum tötet ihr alles um euch herum. Für eure toten Ordnungen, in denen der Rausch keinen Platz hat. Für eure Revolutionen ohne Geschlecht." Nach drei Tagen intensiver Müller-Geburtstagsfeiern zum Fünfundsiebzigsten, ausgerichtet von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft an der Akademie der Künste und ergänzt durch ein kreatives Straßentheater engagierter Schauspielstudenten mit Herzstück quer durch die Berliner Mitte, wird es jetzt wohl leider wieder eine Weile ruhig werden um diesen Namen und sein Werk, das auf so eigen-artige Weise unsere blutige Zeit auf sehr deutsche Weise durch Mythologie und Metaphern dunkel zu verstehen scheint.
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