Goethe von innen

Irritation und Bereicherung Stephan Kimmig inszeniert "Stella" am Deutschen Theater in Berlin mit dem Subtext im Vordergrund

Die Rede, dass etwas "irritierend" sei, wenn es um Werke der Kunst geht, ist inzwischen inflationär geworden und meint allenfalls noch, dass etwas von den Erwartungen abweicht, ohne deswegen aber für wirkliche Aufregung zu sorgen. Spätestens die professionelle Kritik ebnet alles Provozierende rasch ein, hat alles irgendwie irgendwo schon gesehen und gewusst. Kaum jemand gibt noch zu, von etwas Gelesenem, Gesehenen, Gehörten "betroffen", "verstört", eben wahrhaft "irritiert" zu sein - und doch besteht in solcher angestrebter Wirkung die Aufgabe der Kunst, nicht zuletzt die der Bühne: neben, versteht sich, guter Unterhaltung und dem Vergnügen am Komödiantischen (was in Deutschland wohl immer eher die Ausnahme als die Regel ist: Theater meint meist, ernst und bedeutungsschwer sein zu müssen).
Ein vergnüglicher Theaterabend ist Goethes Stella im Deutschen Theater Berlin auch nicht - aber doch ein produktiv irritierender. Hier wird ein Goethe angeboten, den man so nicht kannte - aufregend.
Die Erinnerung an die Schaubühnen-Stella von 1999, mit der dort ein Stück deutscher Theatergeschichte abgeschlossen worden war, ist noch lebendig: Das war "klassisches Theater" in bester realistischer Manier, befolgte den Text und ließ die psychischen Spannungen und Tragödien, die ihm zu Grunde lagen, unter der durchsichtigen Haut großer Schauspielkunst zwar ahnen, um sie aber zugleich atmosphärisch im Konventionellen des schönen Scheins entschärfend wieder aufzufangen. Von diesem Punkt her nun legitimiert sich die ganz andere, eben irritierende Sicht auf dieses erstaunliche Goethesche Jugendwerk, indem hier dessen Subtext auf die Bühne gebracht und dem dichterischen gewissermaßen vorangestellt wird. Auch ganz buchstäblich: Langsam, schüchtern, gehemmt und mit linkischen Bewegungen kommen die Figuren einzeln aus den Kulissen, scheinen sich wie vor Spiegeln für ihren Auftritt vorzubereiten und dabei mimisch selbst darzustellen, die Bühne ist groß und grau und besteht aus gepolsterten Wänden, Heizkörper machen eine Art sinnwidrige Deckendekoration aus, die Türen gleichen denen von Kajüten und liegen oberhalb des abgerundeten Fußbodens - befinden wir uns auf einem Schiff? Nach einer Weile, wir sind dann schon weit drin in der Handlung selbst, dämmert die Vermutung, es könnte sich um eine Art Nervenheilanstalt handeln, deren Patienten dieses Stück von Goethe spielen. Ganz von fern scheint Marat/Sade zu grüßen.
Es ist diese irritierende Verfremdung, die es der Phantasie ermöglicht, die psychologische Dramatik von Stella als die gegenwärtiger Menschen zu erfahren - denn da die Schauspieler so gesehen Laien sind, zeigen sie ihre eigenen Probleme und agieren ihre heutige Subjektivität aus; dort, wo sie dann schauspielern, werden ihre Bewegungen auch schon mal leicht zur exaltierten Farce, da übertreiben sie und spielen dann eine "Rolle", etwa mit einer Gitarre und einem Pop-Song, oder sie kopieren Bekanntes wie die Postmeisterin den regelmäßig stolpernden Butler aus Dinner for one. Dabei bleibt Goethes Text - wenn auch auf eineinhalb Stunden eingestrichen - durchaus erhalten, wird aber gewissermaßen von innen zu neuem, ganz und gar unklassischem Leben erweckt. Die Nerven der Protagonisten, die gewissermaßen ungeschützt durch Konventionen und historisierende Kostümierungen aufeinanderstoßen, liegen bloß.
Es sind nicht gerade Kleinigkeiten, die da durchgespielt werden: Ein Mann verließ, weil sie ihm langweilig geworden war, seine Frau samt Tochter - einfach so, lebte danach mit einer jüngeren Geliebten, verließ auch sie, nachdem er sie geschwängert hatte (das Kind starb - später hängt es als kleine Puppe zur Erinnerung an der Wand); er wollte frei sein und sich in der großen Welt umtun, bis es ihm eines Tages gefällt, zur Geliebten zurückzukehren, wo er nun zufällig auch Frau und Tochter wieder antrifft - und jetzt beide gegeneinander betrügen will, weil er zu feige ist, sich zu entscheiden. Das ist ein Stoff auch von hier und heute, einschließlich der im Subtext enthaltenen sexuellen Gewalttätigkeiten des Geschlechterverhältnisses. (Das Programmheft illustriert das graphisch durch untereinander montierte Textzeilen von Goethe und aus neuesten Pop-Songs.) Und es wird uns genau das auf der Bühne gezeigt, der Subtext also nach vorn gezogen - ohne dabei dem Autor, der da in gewissen Momenten auch Strindberg oder Albee hätte heißen können, Gewalt anzutun. Denn all das hier unverhüllt vorgeführte Irritierende, das geradezu Expressionistisch-Anstößige des physisch-psychischen Zusammenpralls dieser verstörten, sehr modernen Menschen wird von Goethe selbst legitimiert: Man hat nämlich nicht zuletzt dessen Regieanweisungen ernst genommen.
Gespielt wird natürlich die (damals zensurierte) Fassung, die mit einer "Ehe zu dritt" endet - aber da solche wohngemeinschaftlichen Beziehungsarrangements heute niemanden mehr stören und ohnehin die Probleme einer solchen Lösung sich erst "am Tag danach" einstellen, endet unser Stück hier im Zustand allgemeiner Erschöpfung: niemand weiß weiter, die Irritation wird ans Publikum weitergegeben - und gibt uns Stoff zum Nachdenken.
Zum Beispiel darüber, welche Lebensleistung Goethe biographisch vollbracht hat, ein solches explosives Gefühls- und Triebchaos zu bändigen, indem er es gewissermaßen figürlich ausspielte wie ein Psychodrama heutiger Therapie; oder über das selbstzerstörerische Potential, das im ungehemmten Ausleben männlicher Egoismen, Willkür und deren weiblicher Akzeptanz liegt - und wie das zu überwinden wäre: nämlich durch die spätere "klassische Form". An der Marmorstatue verzweifelnd bat Ortega y Gasset 1949 in einem berühmt gewordenen Essay "um einen Goethe von innen" - hier ist er. Regisseur Stephan Kimmig hat sowohl ein atemberaubendes Tempo dieser extremen Gefühlsumbrüche vorgelegt, als auch dann wieder seinen SchauspielerInnen viel Zeit und Ruhe gelassen, damit sie uns auf ihrer intensiv vorgeführten Reise durch die überlebensgroßen Emotionen mitnehmen können. Am Ende ist man nicht mehr irritiert, sondern bereichert.

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