Habeas Corpus

Unheimlich Die US-Regierung veröffentlicht Todeslisten und bereitet einen Eroberungskrieg vor. Wo bleibt die Empörung der westlichen Wertegemeinschaft?

Geradezu unheimlich« nannte dieser Tage ein Feuilleton-Kommentar in der Süddeutschen Zeitung das »Ausbleiben eines öffentlichen Diskurses über die Gefahren des angekündigten Krieges«. In der Tat. Der erklärte Krieg wird leidenschaftsloser beredet und in Meinungskolumnen kommentiert als das Dosenpfand oder die Lohnforderungen im öffentlichen Dienst. Denn er wird ja ohnehin kommen - Fatalismus scheint angesagt. Dabei weiß jeder Mann und jede Frau: Hier wird kalkuliert das Potential zu einer großen Katastrophe freigesetzt und die Welt wird hinterher um kein Deut sicherer, aber sehr wahrscheinlich um ein Vielfaches gefährlicher und gewalttätiger aussehen. Mehr noch: Er ist ein Verbrechen. Und kein Aufschrei erhebt sich im Lande. Alle reden darum herum, drücken sich vor den einfachen politischen und moralischen Wahrheiten. Und wahr ist: Schon das kaltblütige Einplanen von geschätzten Tausenden von Toten in eine politische Strategie ist ein verbrecherischer Akt, und die sich daran meinungsbildend beteiligen, machen sich genauso schuldig wie die, die Angriffsbefehle erteilen oder sie materiell exekutieren. »Unsichtbar macht sich das Verbrechen, indem es sehr große Ausmaße annimmt.« (Brecht) Vielleicht ahnen sie´s ja, die Journalisten und Kolumnisten, die akademischen Außenpolitik-Experten und die einschlägigen Sprecher der Parteien und der Regierungen, weshalb sie sich, wenn überhaupt, so vorsichtig und gewunden, so unsicher und samtpfötig ausdrücken.

Es ist in der Tat geradezu unheimlich, dass die Entscheidung für diesen nur terminlich noch nicht festgelegten Angriffskrieg von einer kleinen Gruppe um den amerikanischen Präsidenten getroffen werden kann, ohne dass sich in Deutschland, vielleicht sogar in Europa auch nur ein ernstzunehmender Mensch fände, der ihn aktiv begrüßte und uneingeschränkt befürwortete. Um Zweifel, Kritik und Ablehnung nicht offen aussprechen zu müssen, werden die Bedenken intellektuell und politisch feige versteckt hinter angeblich noch zu fassenden Beschlüssen des Sicherheitsrates - als wenn dieser eine welt-demokratisch legitimierte, nach moralischen Kriterien urteilende Institution wäre (mit Regierungen wie Russland und China, die selbst systematisch völkermörderische eigene Kriege führen).

In ihrer großen Mehrheit scheinen sich die Meinungsmacher nicht nur mit der militärischen und geopolitischen Hegemonie-Strategie der US-Regierung arrangiert, sondern inzwischen auch der amerikanischen Meinungshegemonie unterworfen zu haben. Symptomatisch etwa das Schweigen aller jener politischen Foren und Podien, mit denen sich Banken und andere Institutionen in der Hauptstadt seit Jahren schmücken: Zum Irak-Krieg wollen sie sich nicht äußern. Zu diesem lebenswichtigen Thema sich zu exponieren, haben die Meinungsmanager ebenso Angst, wie die sonst so rede- und fernsehsüchtigen Politikexperten. Einige Randfiguren der CSU hatten immerhin den Witz, zu fragen, ob der Papst oder Präsident Bush für eine sich christlich nennende Partei die größere moralische Autorität verkörpere; sie wurden schnell zum Schweigen gebracht. Nur eine einzige große Tageszeitung hat daraus einen Aufmacher gemacht, den anderen war dieser Miniprotest aus politischer Vernunft und Gewissen keine Schlagzeile wert. Wie kann man auch so naiv sein, überhaupt eine solche Frage zu stellen!

Die völlige Abwesenheit aktiver Kriegsbefürworter in der Öffentlichkeit unterscheidet den gegenwärtigen Vorkrieg vom Vietnam- oder auch dem zweiten Golfkrieg, von Bosnien, dem Kosovo, ja selbst noch von Afghanistan: da hatte man zu jeder Zeit Podien und Talkshows sowohl mit fachlich kompetenten Kriegsbefürwortern wie mit Gegnern besetzen können. Auf den wenigen akademischen Diskussionsveranstaltungen sind die Kriegsgegner unter sich - und bringen doch nur eine müde, resignierte Minderheit auf die Beine. Etwas ist passiert in diesen letzten Monaten des kollektiven Kretinismus europäischer und deutscher Politik. Symptomatisch für die Involution des moralisch-politischen Gewissens ist das Ausbleiben jedes öffentlichen, amtlichen Protestes irgendeiner unserer Regierungen angesichts der Veröffentlichung einer Mordliste (Gezieltes Töten, »targeted killing«) derjenigen Terrorismusverdächtigen, die von der US-Regierung zum Abschuss, das heißt zur Liquidierung durch ihre eigenen Agenten (CIA oder wer auch immer) freigegeben werden - ohne Gerichtsverfahren, versteht sich. Der Protest war ja schon ausgeblieben nach der triumphal als technologische Großtat gefeierten Ermordung dreier angeblicher al-Quaida-Aktivisten in der jemenitischen Wüste durch eine ferngelenkte Drohne - mit solchen Methoden ließ die Mafia grüßen. Hier wird nicht nur die große amerikanische rechtspolitische Zivilisationsgeschichte seit 1776 (»habeas corpus«) über Bord geworfen, sondern überhaupt das rechtsstaatliche Bewusstsein tödlich verletzt; mit der Behandlung der Guantanamo-Gefangenen hatte das ja bereits begonnen. Und nicht nur die amerikanische, auch und vor allem unsere Öffentlichkeit schweigt dazu, schreibt allenfalls einige bedenkliche Kommentare.

Zwar sind US-Regierungs-Mordpläne nichts Neues - aber unter den Präsidenten Eisenhower, Kennedy bis hin zu Nixon hatte man da wenigstens noch ein schlechtes Gewissen gehabt: die Praxis war geheimgehalten worden und kam erst unter dem Druck von Senats-Untersuchungsausschüssen in den achtziger Jahren ans Tageslicht, um dann per Dekret verboten zu werden. Wo bleibt die Empörung der selbstgerechten Verteidiger der »westlichen Wertegemeinschaft«, der Schäubles oder Dahrendorfs, über diesen bei hellstem Tageslicht angekündigten Rückfall in vorzivilisatorische Praktiken? Das ist um ein Vielfaches dramatischer, als die angeblich abenteuerliche amerikanische Außenpolitik, die unser großsprecherischer Bundeskanzler nicht mitmachen will. Die Wahrheit ist: Sie alle haben Angst vor dieser amerikanischen Regierung. Wer Mordbefehle ausgibt und unliebsame Regierungen per Krieg oder Kriegsdrohung beseitigt, vor dem ist prinzipiell niemand mehr sicher.

Niemand behauptet im Ernst, dass es der amerikanischen Kriegspolitik um den Schutz der Menschenrechte geht - im Irak nicht so wenig wie anderswo. Das hat nichts mit ihrem spezifischen Zynismus zu tun, sondern mit dem tragisch pervertierten kollektiven Bewusstsein eigener, über dem Gesetz und damit dem Völkerrecht und anderen Moralkategorien stehenden, göttlich sanktionierten Einmaligkeit und Auserwähltheit unter den Völkern. Die sprichwörtlichen Spatzen pfeifen es von den Dächern und auch noch die einfältigste außenpolitische Analyse weiß es, dass es ums Öl, um die Ausnützung einer mit dem 11.September geschaffenen, für die weltpolitische Strategie dieser amerikanischen Regierung einmalig und extrem günstigen Situation geht. Und jeder Mann, jede Frau weiß auch, dass die Angst vor irakischen Massenvernichtungswaffen nichts, aber auch wirklich nichts anderes ist als der durchsichtigste Vorwand für einen geplanten Eroberungskrieg.

Am 30. Dezember 2002 berichtete die Washington Post ausführlich über den Besuch des jetzigen Verteidigungsministers und damaligen Sonderbeauftragten des Präsidenten Reagan, Rumsfeld, bei Saddam Hussein im Dezember 1983. Seit Anfang der achtziger Jahre war die US-Regierung dem irakischen Diktator dabei behilflich gewesen, chemisches und biologisches Waffenmaterial zu erwerben, um ihm zum Sieg über das gefürchtete Chomeini-Regime im Iran zu verhelfen. Zum Zeitpunkt des Rumsfeld-Besuches gehörte der Einsatz chemischer Waffen durch die irakische Armee - unterstützt durch Aufklärungsinformationen der US-Geheimdienste - zum täglichen Kriegsgeschehen, und tatsächlich wurden die selbstmörderischen Angriffswellen der jugendlichen iranischen Soldaten auf diese widerwärtige Weise zum Stehen gebracht. Es gab da nur einige leise, nicht ernst gemeinte verbale Proteste untergeordneter amerikanischer Stellen. Später setzte Saddam Hussein diese Waffen ebenso folgerichtig wie skrupellos auch gegen die eigene Bevölkerung - die Kurden - ein. Präsident Bush Senior, auch seinerseits anscheinend ohne jegliche moralische Bedenken, genehmigte gleichzeitig den Verkauf tödlicher Chemikalien und Viren an den unterstützenswerten Diktator, darunter Anthrax und, besonders hinterhältig, Pestbazillen. Kein Wunder, dass die US-Regierung im Dezember vergangenen Jahres mit mafiosen Erpressungsmethoden verhinderte, dass der irakische Regierungsbericht über die eigenen Massenvernichtungsswaffen unzensiert in die Hände der nichtständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates geriet - ein unglaubliche Provokation des Gremiums. Es hätte sich aber spätestens dabei herausgestellt, was von der selbstgerechten Hysterie über diese »Waffen« und der humanitär begründeten Besorgnis der Bush-Regierung über deren Verbreitung zu halten ist. Die Nationale Sicherheitsdirektive 114 vom November 1983, mit der die pro-irakische US-Strategiewende begründet worden war, unterliegt bis heute der Geheimhaltung. Da widerlege einer einmal überzeugend die Erkenntnis des geschichtsweisen Tolstoi, dass Regierungen Verschwörungen gegen das Volk seien. Aber von »Verschwörungstheorien« zu reden, gilt natürlich bei ernsthaften politischen Analysten als unseriös - nicht zuletzt heute wieder, um Zweifel und Nachfragen nach den Hintergründen des 11. September im Keim zu ersticken.

Symptomatisch für die anscheinend schon verinnerlichte Einschüchterung und Angst selbst hochrangiger Presseleute ist das Interview, das Colin Powell kürzlich zur Kriegsvorbereitung fünf Journalisten aus den Ländern der fünf nicht-ständigen Sicherheitsratsmitglieder, also auch Deutschland, gab: Keiner von ihnen stellte auch nur eine ernsthaft kritische Frage zur Doppelmoral der Außenpolitik seiner Regierung - etwa die nach der Herkunft jener Massenvernichtungswaffen, deren US-unterstützten Einsatz gegen Kurden und »andere Staaten« (gemeint ist Iran) Powell heute moralisch empört anprangert; oder ob es etwa noch andere Resolutionen gebe, die von den Betroffenen um ein Vielfaches arroganter ignoriert würden, ohne dass Sicherheitsrat oder US-Regierung auch nur im Traum daran dächten, deren Durchsetzung mit Krieg anzudrohen (Israel); oder auch auf welcher rechtlichen (von der moralischen ganz zu schweigen) Grundlage die nunmehr regierungsamtliche amerikanische Mordpolitik beruht.

So wird derzeit die Weltbevölkerung, werden die Staaten der Welt, ihre politischen Klassen und ihre Meinungsmacher, werden wir alle erpresst, manipuliert und in einen Krieg getrieben im herrschaftsökonomischen Interesse eines Teiles der amerikanischen politischen Klasse - zu deren Nutzen, zu deren Vorteil, zu deren langfristiger Machtabsicherung und auf Kosten einer mühsam genug nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges gehegten Pflanze der Zivilität und des Gewaltabbaus in der Politik. Dass auch unsere eigenen Ökonomien ihre partiellen Vorteile aus einer militärgestützten US-Hegemonie ziehen werden, sollten wir zumindest eingestehen, ehe wir zu laut selbstgerecht darüber klagen. Aber die Menschheit, dieser noble und nicht nur unter dem verlogen-kapitalistischen Schlagwort der »Globalisierung« immer mitzudenkende Wertehorizont, die wird damit zum Mittel amerikanischen und, in etwas geringerem Umfang, auch europäischen oder japanischen Wohlstands erniedrigt und als Zweck in sich selbst zu einer Spottfigur gemacht. Kants »praktischer Imperativ«, der uns auch da ein Kompass sein sollte, besagt: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der Krieg aber, jeder Krieg, ist die radikalste Erscheinungsform der Erniedrigung konkreter Menschen und damit der Menschheit selbst zum bloßen Mittel der Politik. Was muss eigentlich noch geschehen, damit sich unsere Regierenden diese moralisch, intellektuell und politisch unwürdige Behandlung nicht länger gefallen lassen? Wenn wir schon den Kampf gegen diesen angekündigten Krieg nicht gewinnen werden, so sollten wir ihn wenigstens mit Würde verlieren.

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