Heilsam Mythologisches

Oper Mit ihren Inszenierungen von Hofmansthals "Ägyptischer Helena" und der "Ariadne auf Naxos" weckt die Deutsche Oper Berlin wieder Hoffnungen

Die Deutsche Oper an der Bismarckstraße schuldete ihrem Publikum in Sachen Strauss/Hofmannsthal nach einer katastrophalen Arabella und einer missglückten Salome in den vergangenen Spielzeiten eine Wiedergutmachung. Mit der Ägyptischen Helena und der Ariadne auf Naxos ist ihr das soeben glänzend gelungen: Möge es der Beginn einer Tendenzwende dieses wichtigen aber unglücklich operierenden Hauses sein!

Dabei hat es sich Anerkennung bereits dafür verdient, seine Produktionen inzwischen von qualifizierten Gesprächen thematisch begleiten zu lassen. Für die Ägyptische Helena würde ihr auch der – noch zu stiftende – Preis für ein hervorragendes Programm-Heft gebühren, das in diesem Falle geradezu den Rang eines integralen Bestandteils der Inszenierung selbst erhält. Gerade die Helena hat eine solche Hilfestellung verdient, ist sie doch das am seltensten gespielte und nie populär gewordene Werk aus der – in der Operngeschichte einmaligen – Zusammenarbeit eines großen Dichters und eines kongenialen Komponisten.

Dem Regisseur Marco Arturo Marelli ist es gelungen, die Vorurteile gegen diese Oper kraftvoll zu widerlegen und sie dem Repertoire als ein Geschenk zurückzugeben. Beigetragen dazu hat die dramaturgische Vorarbeit, durch die nicht nur die Vor- und Entstehungsgeschichte der Oper rekonstruiert, sondern vor allem ihre zeitgeschichtliche Aktualität herausgearbeitet wurde – was der musikalischen Leitung (Andrew Litton) gewissermaßen die Stichworte lieferte, diese hörbar, und der Regie, sie sichtbar zu machen.

Ernsthafte Auseinandersetzung mit den psychischen Verwundungen

Denn was oberflächlich ein operettenhafter mythologischer Stoff der leichten Art zu sein scheint, erweist sich zur Überraschung eines darauf programmierten Publikums als eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit den psychischen Verwundungen und Schäden, die der (erste) Weltkrieg hinterlassen hatte: Die ägyptische Helena war 1928 uraufgeführt worden.

Wenn man sich die homerische Erzählung so von Hofmannsthal interpretieren lässt – und der unendliche Reichtum möglicher Interpretationen macht die transhistorische Strahlkraft der klassischen Mythologien aus – dann leuchtet die politisch-psychologische Lesart auch sofort ein: Menelaos, dem Spartaner-König, war seine Frau Helena bekanntlich vom Trojaner-Prinzen Paris entführt worden. Zehn Jahre hatte das gegenseitige Abschlachten gedauert. Jetzt ist Troja physisch, Menelaos aber als brutaler Kämpfer psychisch zerstört, und dieser will Helena, die vermeintliche Schuldige an diesem Krieg und an Menelaos' traumatisiertem Seelenzustand, auf der Rückreise nach Sparta töten.

In Ägypten erleiden sie Schiffbruch und werden von einer Prinzessin und Magierin aufgenommen. Was sich dort nun als eine spirituelle Geschichte abspielt, ist eine Art psychiatrischer Komplott zweier Frauen, von Helena (Ricarda Merbeth mit einer Stimme von Weltformat), und der Ägypterin Aithra (ihr ebenbürtig: Laura Aikin), den psychisch schwerkranken Menelaos (auch schauspielerisch überzeugend: Robert Chafin) zu heilen, was am Ende auch gelingt.


Zur Problematik soldatischer Kriegstraumata enthält das Programmheft ein bedrückendes Interview mit einem Bundeswehrarzt über die Aktualität solcher "Menelaos-Fälle" hier und heute. Es enthält die Schlüssel nicht nur zur Inszenierung sondern auch zu Hofmannsthals lebendigem Umgang mit der griechischen Antike und ihren Mythologien. So darf man sich zwar einerseits der ebenso melodie-üppigen wie dramatischen Strauss’schen Musik und gleichzeitig der Hofmannsthal’schen Sprachpoesie hingeben (bei der Uraufführung in Dresden blieb gedämpftes Licht im Saal an, damit man den Text im Libretto verfolgen konnte!), wird aber andererseits von der Bühne unaufdringlich und ohne Regiegrobheiten daran erinnert, dass wir uns hier nicht mehr in der heilen Welt des Rosenkavaliers befinden.

Der Weltkrieg war eine Zäsur, hinter die es kein Zurück gab und gibt. Das mag 1916, als in Wien Ariadne auf Naxos uraufgeführt wurde, noch nicht so deutlich gewesen sein (Hofmannsthal ist einer der Kriegspoeten, die der unerbittliche Karl Kraus in seinem apokalyptischen Weltkriegsdrama vorführte) – aber dieser europäisch denkende und fühlende Dichter war davon überzeugt, dass die kreative Aneignung des antiken (griechischen) Erbes unverzichtbar und überlebenswichtig für die Zukunft der europäischen Kultur ist.

Während Strauss bereit war, gefällige Stoffe aller Art zu vertonen, ging es seinem Librettisten um Vertiefung und existenzielles Ernstnehmen der mythologischen Erzählungen: Mühsam – aber letztlich erfolgreich – musste er den Komponisten dazu überreden, ihm auf diesem Wege zu folgen – man lese dazu den spannenden Briefwechsel zwischen beiden. Ariadne auf Naxos wurde zum schönsten Exempel dieser gesamtkunstwerklichen geistigen Rettungsaktion für eine europäische Kultur der Zukunft. Man hat das bei den unzähligen Ariadne-Inszenierungen seit 1916 wohl immer übersehen (informativ dazu die Chronologie im Programmheft) beziehungsweise sich blenden lassen von der Genialität der Dramaturgie, von dem aus der Reibung zwischen den Stilen und Epochen gezündeten Witz, von der betörenden Kraft der Musik.

Große Oper im Horizont der griechischen Tragödie

Jetzt aber kommt ein Regisseur (Robert Carsen) und zeigt diese vermeintliche Kammeroper als große Oper im Horizont der griechischen Tragödie, als lebendiges Erbe einer zweieinhalbtausendjährigen Klassik. Und die Rechnung geht auf: Wir werden auch atmosphärisch (Bühne Peter Pabst, Kostüme Falk Bauer) gewissermaßen in ein griechisches Theater mit Chor und deus ex machina zurückversetzt, ohne dabei die mehrfache Spiegelung der Handlung als Theater im Theater im Theater zu vergessen, die bis in kleinste und amüsante Details durchgehalten werden (während sie bereits unseren rückhaltlos begeisterten Schlussapplaus entgegennehmen, bezahlt der Haushofmeister die angestellten Künstler).

Zerbinettas Riesenarie (nicht nur stimmlich, sondern auch psychologisch faszinierend: Jane Archibald) wird in ihrer genialen szenischen Verfremdung zum bejubelten Höhepunkt, während Ariadne (Violeta Urmana) in jedem Zoll eine große Tragödin und Bacchus (Roberto Saccà) ein alles, den Mythos und seine Musik, erlösender Todes- und Liebesgott ist. Der Intendant Goethe empfahl für klassische Stücke seinem Publikum „zu Hause wieder einmal ein mythologisches Lexikon zur Hand zu nehmen“. Theater bildet; aber über die Musik erreicht es darüber hinaus beim Publikum Tiefenschichten des Verstehens, die dem Wort verschlossen bleiben. Die Deutsche Oper weckt wieder Hoffnungen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden