Held ohne Willen

Musical im Klassenkampf Mit "Held Müller" versucht die Neuköllner Oper einmal mehr soziales Anliegen und populäres Genre zusammenbringen

Die Premiere war am 1.Mai. Auf dem abendlichen Weg zur Neuköllner Oper in der Karl-Marx-Straße konnte man noch in die von viel Bereitschaftspolizei überwachte Abschlusskundgebung mit ihren alt-militanten Aufrufen geraten, in denen zum Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung aufgefordert wurde. Das Stück, das passender Weise in einem vom CDU-Innenminister ohne persönliche Ortskenntnis als "verslumt" verleumdeten Berliner Stadtbezirk seine Uraufführung hatte, handelt mit Wortwitz, Musik und Ironie von der Rechtfertigung jenes Klassenkampfes, zu dem draußen unmittelbar zuvor aufgerufen worden war: Held Müller nennt sich "ein deutsches Musical", an dem "deutsch" vor allem seine soziologisch-ideologische Ortsansässigkeit ist, die "Fortsetzung der Straße mit anderen Mitteln", eben denen des Musicals; in Dresden hatte es im Januar einen vergleichbaren Versuch mit Hartz IV - Das Musical gegeben und in Essen läuft ein "musikalischer Arbeitsvermittlungsversuch" unter dem Titel Die Vollbeschäftigten.

Überall scheint dieses Genre auf dem Vormarsch zu sein: Während bei den Sprechtheatern und Opernhäusern eine Auslastung von über 70 Prozent als Erfolg gilt, liegt sie bei Musicals oft bei über 90 Prozent - vor allem bei den großen kommerziellen Unternehmen wie dem deutschen Rekordhalter König der Löwen in Hamburg, das sein eigenes Theater hat und mit acht Vorstellungen pro Woche seit 2001 inzwischen 3,7 Millionen Besucher vermelden kann. Kaum ein Stadttheater, das nicht inzwischen auch Musicals im Repertoire hat - von Klassikern wie My Fair Lady bis zu Cabaret -, und ortsbezogene Shows wie Ludwig II. versprechen den Investoren sichere Gewinne; wenn sich Assisi ein Franziskus-Musical leistet, dann dürfte es bis zu einem über die Heilige Elisabeth von Thüringen oder Hildegard von Bingen nicht mehr lange dauern - schließlich gibt es ja bereits mit wohlwollender Billigung des Vatikans Jesus Christ Superstar.

Wir scheinen theatralisch auf dem Wege zur gehobenen Event- und Unterhaltungskultur mit E-Anspruch zu sein, die sich als zukunftsfähige Alternative zum traditionellen Theater präsentiert. Die nur an Quoten und nicht an Qualität interessierten Kommunal- und Kulturpolitiker dürften das mit Erleichterung beobachten, während die kritische Theaterberichterstattung bisher einen großen Bogen um das als Schmuddelkind betrachtete Show Business macht.

Gehört es in den größeren Kontext der Attraktivität des marktorientierten amerikanischen kulturellen Imperialismus? Denn trotz der Behauptung vom "deutschen Musical" spricht das Genre musikalisch, choreographisch und performativ englisch. In dieser ästhetischen Sprache und den entsprechenden Qualifikationen werden die Musical-Schauspieler ausgebildet und in ihr präsentiert sich das Produkt. Auch Held Müller knüpft nicht, was immerhin denkbar wäre, an die große deutsche Tradition von Brecht/ Weill an, die ja sehr bewusst soziale und politische Inhalte in neuer, populärer Form vermittelten. Vorbild für die gefällig-professionell gemachte Musik von Thomas Zaufke ist der einfachere, aber markt-erfolgreiche Steven Sondheim: Kompositorische Originalität kann er nicht für sich beanspruchen, ebenso wenig wie der Choreograph (Götz Hellriegel), der gemeinsam mit der auf zügiges Tempo, Simultaneität der Handlungen und rasche Szenenwechsel setzenden Regie (Bernd Mottl) in einem genial-einfachen Bühnenbild (Jürgen Kirner) jedes Chor- und Gesangsnummern-Klischee und das geläufige gestische Repertoire des Genres bedient. Gibt der Erfolg - viel spontaner Szenenapplaus, auf den hin nicht zuletzt der Text (Peter Lund) mit professioneller Könnerschaft geschrieben wurde - dem Unternehmen recht?

Der Plot von Held Müller ist bestechend einfach, dramaturgisch spannend konstruiert und geradezu ideal für unsere Zeit und diesen Ort - das Programmblatt hat die Form einer Zeitung, der Berliner Nachrichten, mit den aktuellen Anfängen unserer Geschichte: Im marktführenden Deutschen Automobilwerk DAW kommt es bei der Vorführung eines neuen Modells zu einer Explosion, bei der der gehasste Manager, der soeben 6.000 Arbeiter entlassen hatte, ums Leben kommt. Unter den Entlassenen ist auch Herwig Müller, Mitte 50, ein biederer Mann mit gelangweilter Frau und einem von Stütze lebendem Sohn, der sich dem kapitalistischen System mit links-primitiven Sprüchen verweigert und seinen verdrückten Vater verachtet. Da der bei der Explosion irgendwie verschwunden ist, fällt der Verdacht auf ihn als Attentäter - und während sich alle über den Tod des Managers klammheimlich freuen, wird Müller, ohne zu wissen warum, zum Helden für Frau und Sohn und Vorbild für weitere Attentäter. Gleichzeitig entdeckt eine prominente Fernsehmoderatorin ihr Herz für die Sache der Ausgebeuteten und erklärt offen ihr sympathisierendes Verständnis für die schlimme Tat, weshalb sie natürlich ihre TV-Show verliert - leider stellt sich am Schluss heraus, dass alles ein Irrtum war: Die Explosion war kein politisch motiviertes Attentat, sondern ein schlichter technischer Unfall. Der ohnehin lächerlich-unreife Klassenkampf des Neuköllner Kleinproletariats wird von seinen Protagonisten erleichtert abgesagt. Das großsprecherische Chorlied "Ich hab´ mir da was vorgestellt, dass man mit kämpfen etwas ändern kann" wird, gut gemeint, aber ebenso wie alle anderen politisch korrekten papierenen Sentenzen - "der internationale Verteilungskampf macht uns zu Untermenschen", "zu viele sind arm und die Reichen zu reich" - durch die "musicalische" Präsentation desavouiert und der Harmlosigkeit, um nicht zu sagen der pennälerhaften Albernheit preisgegeben. Solche Inhalte verlangen eine der Thematik adäquate Form, angefangen mit einer anderen Musiksprache - und die ist von einer unselbständigen Nachahmung amerikanischer oder englischer Vorbilder nicht zu erwarten. Diese haben in der "Musical Comedy" ihre eigene große Tradition und Kultur (von Gilbert and Sullivan in England bis Gershwin in den USA), die sich nicht eins zu eins übersetzen lässt.

Trotzdem ist Neukölln eine Reise wert: Kaum ein anderes Theater dürfte ein so durchmischtes Publikum von "Einheimischen" aller Schichten - in Held Müller können sie sich bis zu den Kostümen (Nicole von Graevenitz) in den Bühnenfiguren wiedererkennen - und zugereisten "Charlottenburgern" anziehen. Im August aber will man den Sprung nach Mitte wagen und den Müller im renovierten Admiralspalast in der Friedrichstraße zeigen.


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