Das hat man selten, dass ein Theater sich so beschwingt, optimistisch und originell zur neuen Spielzeit präsentiert wie das Deutsche Theater in Berlin mit einem schier endlos langen Leporello, das uns das gesamte Ensemble vergnüglich und in langem Gänsemarsch durch den grünen deutschen Wald spazieren zeigt. Da wird vermutet, wonach die kommende Spielzeit im DT sucht: Deutsche Stoffe - deutsche Mythen, deutsche Erfahrungen, deutsche Geschichten. Und so, wie das Programm präsentiert wird, macht es neugierig und wirkt nicht, wie man meinen könnte, abschreckend. Warum nicht aus der bunten Beliebigkeit der Spielplangestaltung des "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" einmal aussteigen? Warum nicht das Wagnis eingehen, einen roten Faden anzubieten? Wer ihm folgt, der wird Gewinn davontragen - jedenfalls wenn die Versprechen so eingehalten werden wie zum Auftakt.
Da wäre: Deutsches Eck, eine Serie von halbstündigen Theateressays, die bis Ende November kostenlos allabendlich eine Dreiviertelstunde vor Vorstellungsbeginn das Deutschland-Thema variieren, ohne sich dabei zu wiederholen - schon in sich eine erstaunliche dramaturgische Leistung. Dazu hat sich das DT von Claudia Rohner im Rangfoyer ein kleines Amphitheater bauen lassen, in dem 50 Personen Platz finden. Dort konnte man etwa den ob einer ruhigen, disziplinierten Sprechweise tief beeindruckenden Rundfunkvortrag von Theodor W. Adorno zur Frage Was ist deutsch? aus dem Jahre 1965 hören, der geradezu programmatisch für dieses Theaterprojekt endet: "In der Treue zur Idee, dass, wie es ist, nicht das letzte sein solle, nicht in hoffnungslosen Versuchen, festzustellen, was das Deutsche nun einmal sei, ist der Sinn zu vermuten, den dieser Begriff noch zu behaupten mag - im Übergang zur Menschheit." Die Regiestudentin Christine Hofer - überhaupt sind viele Nachwuchstheaterleute am Deutschen Eck beteiligt - zeigt Heiner Müllers Dialog Der Findling, der das sehr deutsche Schicksal von Thomas Brasch und seinem Vater an der gleichnamigen Novelle Heinrich von Kleists spiegelt.
Mit Müller und Kleist wurden die ersten beiden Akzente auf der Bühne gesetzt. Müllers Germania Tod in Berlin oder auch Germania 3 Gespenster am Toten Mann sind in sich vollendete Textfragmente, Bruchstücke, Szenen, Einakter, die das Deutschland-Thema im 20.Jahrhundert variieren, aber keine Handlungsstränge entwickeln. Martin Wuttke hatte 1996 im BE eine szenisch eindrucksvolle Collage aus diesen Stücken inszeniert; jetzt hat der mit Müller vertraute Dimiter Gotscheff im Kontext des DT-Programms einen anderen Weg gesucht und mit Erfolg gefunden. Germania. Stücke heißt seine Bearbeitung der vielgestaltigen und vieldimensionalen Texte. Er lässt sie von neun Schauspielern, die auf neun Stühlen auf abgeschrägter leerer Bühne einer vielfach variablen und ebenso schlichten wie lebendigen Choreographie folgen, einzeln, dialogisch oder im Chor sprechen. Das Dramatische spielt sich in der bildintensiven und metaphernreichen Sprache ab, die intensives Zuhören verlangt und damit bisweilen an akustische Grenzen stößt. Denn wer in den hinteren Reihen sitzend auch nur ein Wort verpasst, der verpasst das Ganze. Leider begrub der bedeutungsschwere Ernst der Textpräsentation in der eindrucksvoll schlichten Inszenierung zu oft Müllers Wortwitz. Viel zu wenig durfte gelacht werden, obwohl Müllers Paradoxien ihre bitteren Wahrheiten in diesem Gewande am eindringlichsten verkünden. "In den Buchläden stapeln sich die Bestseller Literatur für Idioten, denen das Fernsehen nicht genügt." Eigentlich ist es nur eine Szene, die in ihrer absoluten Komik ein befreiendes Lachen provoziert: "Die Heilige Familie" der Hitler, Goebbels Co. im Führerbunker. Da wird wie von einem reinigenden Blitz erhellt deutlich, dass selbst die naturalistischste Nachinszenierung jener letzten Tage in der Reichskanzlei nicht an die tiefere Wahrheit dessen heranreicht, was sich da zehn Meter unter der Erde abgespielt hat. Der Benzin trinkende Hitler Heiner Müllers, der gleichzeitig hysterisch schreit, sein Benzin sei vergiftet, ist um Lichtjahre näher an der pathologischen und komisch-unheroischen Wahrheit der Nazi-Führungsclique, als die minutiöseste Rekonstruktion ihres Endes. Ein Triumph der Dichtung über die Buchhalter der Empirie des Untergangs. Triumph des Abends ist der Vortrag des Christian Grashoff, der zum Abschluss den Ajax so spricht, dass der Text zu Müllers testamentarischer Version von Brechts An die Nachgeborenen wird. Bewegend.
Ganz von Müller her gesehen dann Kleists Hermannsschlacht, dieses problematische, bis zu Peymanns unvergesslicher Inszenierung von 1982 nationalistisch und propagandistisch eingesetzte "Tendenzstück" gegen die napoleonische Besatzung, dieser Aufruf zum gewissen- und skrupellosen Guerillakrieg - ein Stück, das nach 1945 zurecht von den Spielplänen verschwand, nur unter Ulbricht wurde es 1957 noch einmal mit anti-amerikanischer Stoßrichtung wiederbelebt. Und doch gehört es zur deutschen Historie, Literatur- und Bühnengeschichte, die sich ihm stellen müssen, im Kontext der DT-Programmatik eine obligatorische Herausforderung. Tom Kühnels Regie hat sie mit seiner sorgfältig gearbeiteten Inszenierung auf erstaunliche Weise bestanden. Er hat sich leiten lassen vom Geschichts- und Kleist-Verständnis Heiner Müllers, der 1990 bei der Entgegennahme des Kleistpreises die preußische Allianz mit Russland gegen Napoleon "eine Entscheidung gegen Europa" genannt hatte. Für ihn war Napoleon, der Erzfeind der deutschen Nationalisten, "die letzte Figur einer europäischen Zentralperspektive", die "sogenannten Freiheitskriege" folglich ein reaktionäre und aufklärungsfeindliche, anti-moderne und verhängnisvolle Veranstaltung: Kleist auf der falschen Seite der Geschichte und der Kampf gegen Rom eine fatale Fehlorientierung. Der Hermann, den Kühnel auf der Bühne zeigt, repräsentiert und mobilisiert politisch die kleinbürgerlichen Ressentiments der deutschen Angestellten- und Beamtenmentalität: kriecherisch und subaltern gegenüber den Mächtigen, feige, verklemmt. Aber, wenn entfesselt, dann Berserker, brutaler Gewalttäter, Totschläger, Mörder. Das ist der geschichtsmächtige nationalistische deutsche Typus des frühen 19.Jahrhunderts, das ist das Menschenmaterial, aus dem das Bismarckreich gemacht wurde, das sind die wilhelministischen Untertanen Heinrich Manns, die sich später ihrem Führer autoritätssüchtig in die Arme werfen und in den eroberten Ländern guten Gewissens die schlimmsten Verbrechen begehen werden, spießige oder durchschnittliche Familienväter.
Kühnels Umsetzung dieser Lesart der Hermannsschlacht ist verblüffend und überzeugend: Hermann ist der unterwürfige und immer dienstbeflissene Chefportier eines Hotels im Besitz einer internationalen Kapitalgesellschaft mit Sitz in der Welthauptstadt Rom. Und die Römer steigen ständig bei ihm ab: nicht behelmt und geharnischt, sondern in Bademänteln auf dem Wege zu Swimming Pool und Sauna. Hermann und seine ihm untergeordneten Angestellten, Putzkolonnen und Baristen schimpfen sich untereinander ihre Ressentiments von der Seele, aber scheißfreundlich bedienen sie die verhassten und arroganten Fremden aus der Metropole. Nur Hermann schmiedet Mordpläne, ohne politische Strategie, dafür aber originell in ihrer taktischen Skrupellosigkeit. Wenn die Römer sich nicht schlimm genug betragen, um aus unterwürfigen Germanen rachedurstige Mörder zu machen, dann begehen Hermann und seine Leute eben selber die Verbrechen, die sie dann in die römischen Schuhe schieben. Kühnel macht daraus sogar noch mehr, als schon in Kleists Text steht. Am Ende ist die Bühne voller Leichen in blutigen Bademänteln, der besiegte Varus fällt nicht im Kampf, sondern durch feigen Genickschuss.
Die Sache geht so ziemlich auf, nicht ganz. Vor allem dort nicht, wo die Figuren ihre Handlungen psychologisch motivieren, während das provozierende Konzept doch gerade in der Entdeckung der Farce besteht, die der Subtext der Hermannsschlacht transportiert und der die gewollte und gemeinte Botschaft unrettbar desavouiert. Vor allem verliert die Erzählung nach einer Weile ihre dramatische Spannung - man hat verstanden, und die Farce wird müde. Die dunkle Seite der deutschen Nationalbewegung wird sinnfällig gemacht durch eine Drehbühne, die hinter der gepflegten Hotelhalle - sie nimmt das neoklassizistische Interieur der Kammerspiele auf - ein raunendes Lagerfeuer ins Bild bringt, wo die germanische Seele sich in ihrer bärenhäutigen Hinterweltlichkeit zeigt. Der Sieg über Rom ist ein historisch schlechter Sieg über den falschen Gegner, und Hermann ist nicht der Mann, daraus etwas Konstruktives zu machen. Der Gegner sitzt woanders, das Hotel bleibt im Besitze des internationalen Kapitals; das Programmheft bringt dazu einige einschlägige Texte. Ob die deutsche Geschichte anders - und weniger abwegig - verlaufen wäre, wenn es diese unselige römische Niederlage am Teutoburger Wald nicht gegeben hätte, kann dahingestellt bleiben, darauf haben wir keinen Einfluss mehr. Aber dass durch Kleists Hermannsschlacht ein "relativ folgenloser Grenzzwischenfall im römischen Imperium zum nationalen Mythos" wurde (Müller), der unsere Köpfe folgenreich vernebelte, und dass sich von seinen germanisch verkleideten gewissenlosen Deutschen der sogenannten Freiheitskriege eine Blutspur bis zur subjektiv unschuldigen mörderischen Generation unserer Väter und Großväter ziehen lässt, das ist die Entdeckung von Kühnels Inszenierung des Stücks. Für den Teil der Geschichte und für den Umgang mit solcher Literatur sind wir Deutschen von heute immerhin noch verantwortlich.
Man darf also mit Recht gespannt sein, was Michael Thalheimer am ersten Teil des Faust entdecken wird, der als nächster deutscher Stoff im Haus an der Schumannstraße herausgebracht wird.
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