Ins Leere

Vor Goethe kapituliert Michael Thalheimers Inszenierung des "Faust II" am Deutschen Theater in Berlin

Ein wirklicher Bühnenschock konnte es nicht mehr werden: Wer Thalheimers Faust-I-Inszenierung gesehen hatte, der konnte sich in etwa vorstellen, nach welchen ästhetischen und dramaturgischen Kriterien der Zweite Teil gearbeitet werden würde. Allenfalls wie radikal der Stoff, den auszubreiten Peter Stein einen ganzen Bühnentag gebraucht hatte, hier zusammengestrichen würde, blieb ein Überraschungsmoment - aber wenn das große Welttheater mit mephistophelischen Siebenmeilenschritten dann schon nach weniger als zwei Stunden wieder vorbei ist, da wird das Schlusswort Mephistos unfreiwillig zur Summe - nicht des Faust, sondern dieser Inszenierung: "Es ist vorbei. Warum vorbei? Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!... Was ist daran zu lesen? Es ist so gut, als wär´ es nicht gewesen, und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere."

Was wir sehen und hören (sofern das häufige Bühnen-Brüllen vor allem des sonst hervorragend unkonventionellen Mephisto von Sven Lehmann es zulässt) sind angespielte Szenen, deren Vervollständigung sich der Faust-gebildete Leser wohl selber dazudenken soll, Monolog- und Dialogbruchstücke, bisweilen auch aus früheren Zusammenhängen eingeflickt, alles ohne nachvollziehbaren Zusammenhang für den, der mit Goethes Riesenwerk nicht im Detail vertraut ist, und wer ist das schon: Dies ist ein Faust für Eingeweihte. Faust I hatte in Thalheimers Zuspitzung noch das Verdienst, auf die sprachliche Prägnanz gesetzt und da so manches sonst Überhörte wie neu beleuchtet zu haben; dort war die dramaturgische Rechnung deshalb aufgegangen, weil dieser erste Teil noch ein traditionales und auch eben bekanntes Handlungsgerippe hat, so dass die Distanz zwischen Wort und nur angedeuteter Handlung für ein aufgeschlossenes Publikum noch überbrückbar war.

Faust II ist da von ganz anderer, komplexerer Struktur. Seine Szenen und Figuren sind allesamt allegorisch und symbolisch, seine Handlung ist eine hoch artifizielle Sinn- und Bedeutungskonstruktion, die sich nur dann - und das mühsam genug - erschließt, wenn man ihr Zeit gibt, sich sprachlich zu entfalten; welche Ironie, im Programmheft Manfred Ostens wichtigen Essay über Goethes Entdeckung der Langsamkeit zu zitieren und dann eben dieses Lebenswerk im Eilverfahren abzuwickeln! Goethe hatte, im Unterschied zum jahrhundertealten Vorurteil von der Unaufführbarkeit des zweiten Teils sehr konkrete Vorstellungen für die Bühne, denn er wusste, dass gerade dieses Sprachkunstwerk eine Versinnlichung und Vergegenständlichung brauchte, dass er es "mit Sehnen, Fleisch und Oberhaut" bekleidet, ja selbst "noch einige Mantelfalten umgeschlagen" habe, "damit alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und fort ergetze und ihnen zu schaffen mache." Auch das steht im Programmheft. Thalheimer hingegen hat diesen Faust völlig entkleidet, das Rätsel, das er ihm ließ, besteht allenfalls in dem vom Publikum nicht nachvollziehbaren Sinnzusammenhang der Szenen und Bruchstücke.

Er führt uns den Faust als Schattenspiel vor, als eine Art höheres Marionettentheater. Das macht bisweilen eindrucksvolle Bilder in schwarz-weiß - eine große schwarze Wandfläche mit den dichtgedrängten Protagonisten der kaiserlichen Hofgesellschaft in einem kleinen hell erleuchteten Kasten eröffnet das Schauspiel (mit dem unvermeidlichen musikalischen Elektronikschock) - und am Ende steht Faust vom Erfolg gekrümmt und gebrochen einsam auf einem hohen Podest inmitten einer leeren, grau-weißen Bühne: optisch ein starkes, erinnernswertes Bild. Dazwischen ziehen die Figuren, wie mechanische Puppen sich bewegend, an Faust vorüber und werden als Zerrbilder ihrer selbst gezeigt, damit wir nur ja nicht auf den Gedanken kommen, uns über ihre mythologische Bedeutung selbst Gedanken machen zu müssen: Der tragisch-pathologische Jüngling und Kriegsheld Euphorion, (Michael Gerber) als verklemmter Pensionär; Chiron (Jürgen Huth) ein vertrottelter älterer Herr mit lahmem Gang und müder Stimme; und schließlich Helena (Nina Hoß): "der Inbegriff aller Schönheit und Kunst" und "die Erscheinung des klassischen Schönen und Verkörperung der gelungenen Renaissance" wird so radikal gegen den sprichwörtlichen Strich gebürstet, dass aus der "Vielgesichtigkeit ihrer mythischen Existenz" (alles im Programmheft!) die Eingesichtigkeit einer vulgären Hure wird, deren Leiden an der eigenen Rolle, Idol zu sein, so herausgerotzt und (unverständlich) geschrien wird, wie es ihrem äußeren Erscheinungsbild als mitleiderregendem Straßenmädchen entspricht. Nichts davon, dass Goethe an dieser Schlüsselfigur der historischen Mythologie die Möglichkeiten und Grenzen des Klassisch-Schönen in der heraufziehenden Industriemoderne problematisieren wollte.

Dieser Thalheimersche Faust II ist arrogant und feige: Er ist arrogant, weil er sich weigert, seinem Publikum das zu geben, was für den Theatermann Goethe selbstverständlich war, nämlich Nachvollziehbarkeit der Bühnenerzählung, so parabelhaft und komplex sie auch sein mag. Er schüchtert vielmehr ein mit der Attitüde: "Wenn Ihr´s nicht versteht, habt Ihr Eure Hausaufgaben nicht gemacht". Und das so eingeschüchterte Publikum dankt´s mit Applaus, weil es solches ja nicht zugeben oder gar des Banausentums verdächtigt werden will. Der um jeden Preis originell gestaltete große Schlussmonolog Fausts mit seinen gequälten langen Pausen, seinen geschrienen Passagen, den Grimassen und Körperverrenkungen (Ingo Hülsmann) reduziert die ungeheure Problematik auf einen so einfachen Nenner, dass nun auch noch der letzte Mohikaner die - in dieser manierierten Form zur Plattitüde verkommenden - Botschaft verstehen soll: Faust ist kein positiver Held.

Und die Inszenierung ist bei aller scheinbaren Radikalität feige, denn Goethe endet die gleichnishafte Existenz dieser synthetischen Figur der Katastrophengeschichte der Moderne nicht mit Mephistos nihilistischer Weltsicht, sondern es gibt da eben noch die Grablegung und vor allem die "Bergschluchten", wo es um "Faustens Unsterbliches" geht. Diesem und was möglicherweise "Erlösung" bedeutet, galt Goethes große Parabel, und sich vor einer Auseinandersetzung gerade mit ihrer kosmologischen Dimension zu drücken, heißt auch, vor ihr und letztlich auch vor dem Werk und seiner ganz anderen Aufklärung zu kapitulieren. Die beiden Schlussszenen sind die eigentliche Nagelprobe jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit Faust II - von Thalheimer wurden sie in Gänze gestrichen. Goethe selbst hatte sich damit schwer getan, aber er wusste, er war es sich und uns schuldig, ungewohnte, "abstrus" scheinende "Sprecharten" über das zu finden, "wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen". (An Zelter 1827)


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