Mit provozierender Zuspitzung hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom Shakespeare den "Erfinder des Menschlichen und der Persönlichkeit, so wie wir sie heute verstehen", genannt - wobei mit dem "Wir" der Westen, der Okzident, gemeint ist; Vergleichbares ließe sich über die Oper sagen als das Medium, das unsere Gefühle erfunden und artikuliert hat. Auch wenn wir nie eine Oper gesehen, nie auf der Bühne Menschen haben singen hören: Liebe und Hass, Verzweiflung und Trauer, Eifersucht und Rache - alle großen Leidenschaften und Gefühle des Subjektiven sind durch die Musik, durch die Gestaltung singender und ihre Geschichte musikalisch erzählender Menschen ins kulturelle Bewusstsein der Sinne gehoben und dort erkennbar worden.
Die Kulturgeschichte musikalisch öffentlich verhandelter und damit legitimierter Leidenschaften beginnt mit Monteverdi und wird von Händels Opern, die erst in jüngerer Zeit von den Musiktheatern für eine staunendes Publikum wiederentdeckt wurden, zu einem zweiten Höhepunkt geführt. Berlins Komische Oper hat dabei mit den unvergessenen Inszenierungen von Giustino und Tamerlano eine führende Rolle gespielt - und jetzt also gilt dieses Staunen Alcina.
Die Geschichte, die da erzählt wird, wiederzugeben, würde sie noch verwirrender machen, als sie ohnehin ist - man darf sich da ganz schlicht der Musik und der Bühne anvertrauen, um in einem tieferen, ernsthaften Sinne zu verstehen, was da, äußerlich als "Zauberoper" deklariert, von Händel im ökonomischen Konkurrenzkampf mit anderen Musiktheater-Etablissements im London der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts komponiert wurde, nach einer Episode aus dem Orlando Furioso des Ariost (um 1530). Dass man dieses Genre irgendwie für die heutige Bühne "modernisieren" muss, steht außer Frage - aber das Wie ist das große Kunststück.
Dem Regisseur David Alden ist das mehr oder weniger gelungen. Mehr, weil sein Eklektizismus in Stilen, Epochen und Bühnenversatzstücken für so viel Kurzweil und Vergnügen sorgt, dass daraus eine "zauberhafte" Einheit, ein in sich stimmiges Ganzes wird, das die verwirrende Handlung auch unserer, für Fabel-Märchenwelten wenig aufgeschlossenen Gegenwart plausibel macht. Da wird Theater im Theater gemacht, die Zauberwelt als Liebestraum eines Jünglings auf eine herabgewirtschaftete Varieté-Bühne projiziert, auf der bald alle zu Mitspielern werden und die Geschichte der großen Leidenschaften wie selbstverständlich daherkommen kann, einschließlich der Bühnentiere, in die die Zauberin Alcina ihre Ex-Liebhaber und alle ihre Inselherrschaft bedrohenden Eindringlinge zu verwandeln pflegte. Wenn laut Textbuch sich die Insel in eine Wüstenei verwandelt, dann erscheint hier die nackte Bühne mit Brandmauer und Gestänge. Kehrt Alcina hingegen als Zauber-Herrscherin zurück, dann verwandelt sie sich wieder ins Theater mit Vorhängen und Kulissen. Und immer wieder ergibt sich daraus ein neuer Kommentar zur Handlung, die selbst mit einer gehörigen Portion Ironie und Witz entmythologisiert wird. Das "Weniger" des Gelungenseins dieser lebendigen Inszenierung sind einige optisch aufdringliche, aber schwer entzifferbare Symbolismen (Bühne: Gideon Davey) und das exzessive Ausreizen schöner Einfälle wie des Bananenmotivs.
Das Wichtigste jedoch geschieht in der Musik. Schon zu Felsensteins Zeiten hatte die Komische Oper Schwierigkeiten, den hohen Anspruch des Musik-Theaters zu erfüllen und der Meister sich dann in der Regel eher für die etwas weniger "schöne Stimme" und zugunsten der schauspielerischen Qualitäten seiner Darsteller entschieden - ein Problem ist das seitdem geblieben, begründet im Selbstverständnis und in der Ausbildung der Opernsänger mit dem unbedingten Primat der Stimme. Auch das traditionelle Publikum ist noch immer bereit, einen beleibten Papageno oder einen fülligen Cherubino zu akzeptieren, wenn sie nur ihre Arien erwartungsgemäß abliefern. Nichts davon in dieser Alcina: Da elektrisiert vom ersten Ton an die körpersprachliche Emphase, mit der gesungen, die Leidenschaft, mit der agiert wird, die Jugendlichkeit, wo sie erforderlich und die darstellerische Reife, wo sie zur Rolle gehört. Die für klassische ausgebildete Sänger und Sängerinnen schwierigen dramatischen Barock-Koloraturen kommen wie selbstverständlich, aber mit einer unglaublichen Energie und Kraft von der Bühne, bohren sich gewissermaßen unmittelbar in Herz und Seele des Publikums hinein und explodieren dort als miterlittene, miterlebte oder überhaupt erst erweckte große Gefühle - nicht die der Romantik und der Sentimentalität, sondern als entdeckte Sprache, die Sprache der Musik.
Die Arie der Alcina im zweiten Akt, Ah! mio cuor (weil sie in letzter Minute einsprang, singt Geraldine McGreevy ihre Arien - glücklicherweise! - im originalen Italienisch) gehört zum Schönsten und Tiefsten, was die menschliche Stimme musikalisch über einen Seelenzustand auszusagen vermag. Und wer meint, es gebe nichts, das der dramatischen Rache-Arie von Mozarts Königin der Nacht an die Seite zu stellen wäre, der lasse sich von der Leidenschaft, mit der Händel der Rache für verletzte Liebe im dritten Akt musikalischen Ausdruck gibt und mit der die Alcina in der Komischen Oper das singt, eines Besseren belehren.
Den nicht geringsten Anteil an dieser Freisetzung psychischer Energien hat das lupenrein spielende Opernorchester unter der Leitung von Paul McCreesh: Da wird mit einer Feinheit intoniert, mit einer Genauigkeit das Unisono einzelner Arienpartien musiziert, da stehen Prestissimo-Dramatisches und Adagio-Lyrisches oft hart nebeneinander und erzeugen eine Spannung und innere Klangstärke, wie sie sonst nur große Orchester mit großer Besetzung zu erzeugen vermögen. Zu keiner Zeit gerät die Balance zwischen Sängern und Orchester in Gefahr, wozu der höher gefahrene Orchestergraben akustisch und wegen des dadurch ermöglichten Sichtkontaktes beitragen mag.
Wenn man von der "Überzeitlichkeit" klassischer und vorklassischer Musiksprache spricht: Hier wird sie erfahrbar, weil sichtbar gemacht durch einen respektvollen und zugleich respektlosen Umgang mit einem Werk, das alles andere als für die Ewigkeit, vielmehr sehr buchstäblich für den Tag geschaffen worden war, das aber, weil Händel sich selbst und seine Sache trotzdem ernst nahm, noch immer, ja vielleicht sogar mehr als vor nunmehr 270 Jahren, seine Wirkung als "Kraftwerk der Gefühle" (Alexander Kluge über die Oper) entfaltet.
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