Mitte der sechziger Jahre publizierten zwei amerikanische Politologen, Almond und Verba, ein Buch mit dem Titel The Civic Culture. Darin versuchten sie erstmalig jene informellen, nicht-geschriebenen Spielregeln und alltäglichen Verhaltensweisen der empirischen Analyse zugänglich zu machen, ohne die keine Gesellschaft und vor allem kein auch noch so gut gemeinter Rechts- und Verfassungsstaat funktionieren kann. Schon der große Montesquieu hatte Mitte des 18. Jahrhunderts über den "Geist der Gesetze" im aufgeklärten Staat nachgedacht und gewusst, dass der mindestens ebenso wichtig ist, wie der geschriebene Buchstabe. Deutschland hat später die schlimme Erfahrung mit Weimar gemacht als einer Demokratie ohne Demokraten. Der ideologische Pferdefuß von The Civic Culture bestand zwar darin, dass die amerikanische im Vergleich mit europäischen und lateinamerikanischen Gesellschaften natürlich als die einzig wirklich demokratische und darum vorbildliche politische Gesellschaft erschien - wen wundert´s; aber in der öffentlichen Diskussion ist seitdem, mit einer europäischen Verzögerung von etwa zehn Jahren, der Begriff der "politischen Kultur" geblieben, unter dem inzwischen allerdings jeder alles mögliche subsumiert und sich vorstellt. Aber trotz seines inflationären Gebrauchs ist er wichtig und fruchtbar, macht er uns doch aufmerksam auf Bürgertugenden und ungeschriebene so gut wie "unschreibbare" Umgangsformen im öffentlichen, im politischen wie im gesellschaftlichen Leben, ohne die die positiven Gesetze nicht funktionieren könnten - sie müssen mit "Geist" gefüllt, müssen gelebt, aber sie können auch vom "Ungeist" ausgehöhlt, entwertet und entwürdigt werden.
Das geordnete Leben in Gemeinschaft ist eine Kunst, eine "Gemeinschaftskunst", wie die Alten wussten, und es bedarf einer immer wieder zu erinnernden, ihren großen Philosophen und poetischen Denkern bewussten kosmologischen Bindung. Wo das fehlt, wo Sitte und Anstand zugunsten eines pragmatischen Egoismus verschwinden, ist der Zerfall der "politischen Kultur", die Rückbildung in eine entsolidarisierte Raubgesellschaft nicht weit. Der marktorientierte "Geist des Kapitalismus" ist derzeit das mächtigste Sturmgeschütz, das gegen das immer gefährdete, fragile Gebäude der Gemeinschaftskunst offensichtlich unwidersprochen und jedenfalls ungehindert in Stellung gebracht wurde und ihm den schwersten Schaden zufügt.
In seiner ersten - und letzten - Reichstagsrede im Februar 1932 nannte der junge SPD-Abgeordnete Kurt Schumacher die dramatischen Stimmengewinne der NSDAP den Erfolg eines "dauernden Appells an den inneren Schweinehund im Menschen". Gianfranco Fini, der italienische Neofaschist und stärkster Bündnispartner Berlusconis hatte so Unrecht nicht, als er die fast-paritätische, "nur arithmetische Niederlage" (welch ein Demokratie-Verständnis!) seines Rechtsbündnisses als politischen Sieg feierte. Denn was Berlusconi tatsächlich gelungen war, das war die erfolgreiche Aktivierung der primitiven Instinkte des entsolidarisierten Egoismus des Wählers zwecks Zerstörung einer seit den siebziger Jahren mühsam genug gewachsenen demokratischen Kultur: "Bereichert Euch auf Kosten der Gemeinschaft, so wie ich es getan habe, baut Eure Häuser, verfolgt Eure materiellen Interessen, kümmert Euch dabei nicht um Ökologie, Verfassung oder den Rechtsstaat" und so weiter. Zur halben Ehrenrettung der Berlusconi-Wähler muss man allenfalls hinzufügen, dass die meisten von ihnen über den wahren Zustand ihres Landes völlig desinformiert sind: Die Verdummung durch die Telekratie hat furchtbare Früchte getragen. Aber das ist ein schwacher Trost zur Erklärung der bitteren Wahrheit über das erfolgreiche Zerstörungswerk.
Die Berlusconi-Kampagne konnte dabei an tiefere Schichten der italienischen politischen Kultur anknüpfen. "Fatto la legge, trovato l´inganno" - kaum ist das Gesetz gemacht, hat man auch schon das Schlupfloch gefunden, heißt es im Volksmund. Steuern zu hinterziehen, den Staat zu betrügen gilt als sportlich und intelligent. Berlusconi hat es seinen Landsleuten in beispiellosen Ausmaßen vorexerziert und ist mit seinen Betrügereien immer ungeschoren davongekommen. Um Brecht zu paraphrasieren: "Unsichtbar macht sich die Kriminalität, indem sie sehr große Dimensionen annimmt." Die Subversion des Rechts wird in Italien sogar belohnt: Millionen Häuser werden seit Jahrzehnten illegal gebaut (die regelmäßigen "Naturkatastrophen" abgeschwemmter Dörfer sind da vorprogrammiert) - anschließend zahlt man eine Konventionalstrafe, den "condono", was einfacher ist als das Einholen der Baugenehmigungen; und die Regierung ermutigt dieses Verfahren, weil sie auf diese Weise höhere Steuereinkommen erzielt.
KPI-Sekretär Enrico Berlinguer, die letzte große Figur der italienischen Linken - er starb 1984 - hatte Anfang der achtziger Jahre versucht, die Kommunistische Partei auf eine Programmatik politischer Moral einzuschwören, worin viele Militante einen fatalen Verzicht auf Klassenkampf sahen. Tatsächlich war es der kühne Versuch einer Wiedergewinnung von öffentlichem Anstand und Gemeinsinn als Erbgut des Marxismus: Die Linke nach dem Versagen des "real existierenden Sozialismus" als ethische Kraft zu rekonstruieren. Berlusconi hat eine solche Strategie als Gefahr für sich und seine Unkultur des rücksichtslosen Bereicherungs-Kapitalismus instinktiv erkannt - deshalb sein sonst unverständliches ständiges Eindreschen auf die inzwischen fast völlig von der Bühne verschwundenen "Kommunisten".
Der massive und nicht zuletzt phantasiereiche Widerstand der italienischen Intellektuellen ist ein hoffnungsvolles Anzeichen, dass es bisher noch nicht gelungen ist, die politische Kultur bürgerlichen Anstandes und bürgerlicher Tugenden völlig zu korrumpieren; genannt werden müssen in diesem Zusammenhang auch die eindrucksvoll mutigen italienischen Juristen, Richter und Staatsanwälte, die sich mehrheitlich nicht haben einschüchtern lassen. Trotzdem sind die 49 Prozent Wählerstimmen für den charismatischen Oberkorrupteur mehr, als sich eine demokratische Gesellschaft eigentlich leisten kann.
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