Medizin als Metapher

Weise Tiziano Terzanis bewegender Lebensbericht "Noch eine Runde auf dem Karussell"

Dies ist keine normale Buchbesprechung - eher eine Art dringliche Aufforderung. Man scheut sich zwar, wie Elke Heidenreich aufzutreten. Aber: Dieses Buch muss gelesen werden! Es ist zugleich eine sehr persönliche Rezension, weil der Rezensent dem Autor fast vierzig Jahre freundschaftlich eng verbunden war und sein erstaunliches Wachstum anteilnehmend miterlebt hat. Hat - denn dies ist sein letztes von vielen Büchern. Kurz nach der Publikation im Juli 2004 starb der Journalist Tiziano Terzani. Er hat aber noch miterlebt, dass das Buch gleich auf die Bestsellerlisten kam und in Italien zu einer Art Kultbuch wurde. Nun ist die (sehr geglückte) deutsche Übersetzung herausgekommen.

Terzani, patriotischer Florentiner, über 30 Jahre Spiegel-Korrespondent (Vietnam - dort begann er seine Karriere als der einzige westliche Journalist, der 1975 den Einmarsch des Vietkong in Saigon miterlebte, dann China, Kambodscha, Thailand, Japan, zuletzt Indien), einer der international besten Asienkenner, Autor zahlreicher politischer Reisebücher, seine Reportagen aus Afghanistan nach dem amerikanischen Einmarsch ein leidenschaftlicher pazifistischer Appell (Briefe gegen den Krieg, 2002) - in Italien auch das für viele Monate ein Bestseller - und eines Tages wurde ihm mitgeteilt, er habe Krebs.

Da begann er seine letzte große Reise: Eine physische und eine spirituelle. Die physische unternahm er mit seiner Krankheit im Gepäck durch die großen Heilmethoden der Kulturen: Ausgehend von der besten modernen Krebsklinik mit Chemotherapie, Operation und Strahlenbehandlung in New York reiste er zu Selbsthilfegruppen in den USA, zur Homöopathie nach Italien, zu den berühmten Zauberheilern auf die Philippinen, zu einer Pilzkur nach Hongkong, zur alternativen Darmspülung nach Thailand, zum Leibarzt des Dalai Lama, zu indischen Meditations-Ashrams und Ayurveda-Kliniken - es gibt so gut wie keine der nicht-westlichen beziehungsweise asiatischen Heilmethoden, die er nicht an sich ausprobiert und zugleich deren Geschichte, Körperphilosophie und Praxis studiert hätte, ohne sich deswegen von der modernen westlichen Apparatemedizin völlig zu verabschieden, die ihm möglicherweise - möglicherweise! - jene fünf Reise- und Forschungsjahre konzediert hat, die er brauchte, um bei sich anzukommen.

Denn das war die zweite und wichtigere Reise, die Terzani unternahm: die zu den geistigen Ursprüngen seiner Krankheit und damit zu seinem eigenen Körper, den er - wie die meisten von uns - als gegeben hingenommen und nur ab und zu im Krankheitsfalle von spezialisierten Ärzten hatte reparieren lassen. Er begann seinen Körper, seine Organe, ja seinen Krebs wahrzunehmen, mit ihnen allen zu kommunizieren, freundlich zu seiner Physis zu sein, die Krankheit nicht als Feind, sondern als Weg der Erkenntnis zu akzeptieren. Das Einfache, das schwer zu leben ist: Den Tod nicht zu verdrängen, sondern mit ihm freundschaftlich umzugehen, weil der von Anfang an zur Geburt gehört. Sterben zu lernen ohne deswegen aufzuhören, sich des Lebens zu freuen - im Gegenteil. Aus der detaillierten Selbstbeobachtung aller Veränderungen, die mit ihm vorgingen, erwuchs ihm ein neues Glücksgefühl des bewussten In-der-Welt-Seins.

Zugleich ist dieser persönliche und exemplarische Lebensbericht - er ist exemplarisch, weil er keinerlei übermenschliche Größe zur Voraussetzung hat, sondern nur den von jedem Mann und jeder Frau aufbringbaren Mut zur Neugier und zur Sensibilisierung des Bewusstseins - auch ein in höchstem Maße politisches Buch. "Über viele Jahre hatte ich als Zeuge von Kriegen, Revolutionen, Überschwemmungen, Erdbeben und den großen Veränderungen in Asien mit leidenschaftlichem Interesse von gefährdeten, vernichteten oder, was am häufigsten vorkam, vergeudeten Menschenleben berichtet; von dem Leben vieler, vieler anderer Menschen. Und nun beobachtete ich zur Abwechslung einmal das Leben, das mich am meisten anging: mein eigenes.". So beschreibt Terzani das Paradox am Ende seines Lebens.

Die große Klammer, die Anfang und Ende dieser Reise zu sich selbst zusammenhält, ist die westliche Medizin als Metapher für die kriegerische Struktur insbesondere der amerikanischen Gesellschaft. Nicht nur ist die Sprache der Medizin militarisiert - der "Kampf" gegen den Krebs, das "Bombardieren" der Krebszellen, der Tumor als zu bekämpfender "Feind", die Therapie eine "Waffe" - auch in der Praxis der Krebsbekämpfung entdeckt er eine Geistesverwandtschaft zur Entlaubung des vietnamesischen Dschungels, um versteckte Vietcong zu töten, denn die Chemotherapie zerstört großflächig viele Systeme des Körpers in der Hoffnung, dabei auch die Krebszellen zu treffen.

Anfangs macht Terzani da noch mit; am Ende der Fünfjahresreise, als der Krebs sich wieder eingestellt hatte - inzwischen war es das zweite Jahr nach 9/11 - verweigerte er sich einer weiteren Behandlung: "Die Klinik selbst hatte sich verändert, aber natürlich vor allem die Atmosphäre in New York. Mit den amerikanischen Kriegen und Konflikten wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ich hatte die Nase voll von ihren intelligenten Bomben, die unschuldige Zivilisten töten, von ihrem angereicherten Uran, das zuallererst den eigenen Soldaten Krebs einträgt; ich hatte genug von ihren radikalen Chemo-Cocktails, von ihren kanzerogenen Radiotherapien. Ich wollte Frieden." Den Frieden mit sich selbst als Voraussetzung für den äußeren, den politischen Frieden.

Kein Rückzug aus der Welt: Terzani nahm noch aktiv Teil an der riesigen Friedensdemonstration im Sommer 2003 in Florenz teil, wo er seine letzte öffentliche Rede vor der ihn optimistisch stimmenden No-Global-Jugendbewegung hielt und teilte den Freunden mit, dass er alle Beziehungen zum amerikanischen Wirtschaftsimperium als persönliche Protestaktion abgebrochen habe (Kreditkarten, Email) - vor allem aber hatte er sein großes testamentarisches Reisebuch zuende gebracht, das in Italien sofort sein Publikum fand. Es ist das weiseste Dokument eines ermutigenden Lebens, das ich kenne, weil man sich an ihm ein großes Beispiel dafür nehmen kann, was Menschen möglich ist, zu erfahren - wenn sie sich ernsthaft auf den Frageweg begeben: was denn der wahre Sinn dieses Lebens im Angesicht des ohnehin unausweichlichen Todes ist.

Tiziano Terzani: Noch eine Runde auf dem Karussell. Vom Leben und Sterben. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005; 732 S.,
24 EUR


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