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ETHIK DER ÄSTHEITIK Ein Festival gegen das Klischee vom Dichter der hoffnungslosen Endzeitlichkeit

Von Beginn an waren Sie für mich eine Gottheit in den Himmeln des Geistes" schrieb Václav Havel 1983 an Samuel Beckett, als dieser dem im Gefängnis sitzenden Kollegen eines seiner Ein-Szenen-Stücke, Katastrophe, gewidmet hatte. "Die Erinnerung an die abenteuerliche Suche und die Entdeckung geistiger Werte in der Leere um mich herum, wird niemals verblassen." Aber ist nicht Beckett selbst der unübertroffene Dramatiker dieser Leere? Denn immer wieder führt er uns doch das erschreckende Spiegelbild von Personen vor, die nicht nur auf irgend etwas "warten", sondern die sich auch nichts mehr zu sagen haben, während sie gleichzeitig unaufhörlich Banales vor sich hin reden. Mit diesem Etikett, auch mit dem des "absurden Theaters", war Beckett bequem einzuordnen und erklärbar geworden - alles Variationen eines Endspiels oder, wie es vergangene Woche am Schluss von Ohio Impromptu hieß, wo ein uralter Mann einem anderen Uralten aus einem verstaubten Buch mit langsamer Stimme vorliest: "Die traurige Geschichte zum letzten mal erzählt. Nothing is left to tell."

Dass mit dem Klischee vom Dichter der hoffnungslosen Endzeitlichkeit Beckett völlig verkannt, ja in sein Gegenteil verkehrt wird, das hatte nicht nur Havel klar genug erkannt, dem aus diesen Texten Mut und Überlebenskraft gewachsen waren, sondern es gehört auch zu den bemerkenswerten Erkenntnissen eines 14-tägigen internationalen Festivals "Beckett in Berlin 2000", das mit Lesungen, Musik, Vorträgen, Symposien, Filmen, Hörspielen, einer Photoausstellung und natürlich einer Fülle von Inszenierungen aus Frankreich und den USA, aus Italien und Irland, aus Polen, Tschechien und Deutschland überreich bestückt war.

Beckett ist nicht nur ein Meister der poetischen Sprache, nicht nur gibt er zu Denken auf, hinter einer nur scheinbar einfachen, reduktionistischen Zeitanalyse enthüllt sich dem genauen Hören auf die Vielfalt und Tiefe dieser Texte etwas Widerständiges, eine Ethik der Ästhetik. Die klassizistische Strenge der Form wird zum sinnstiftenden Anspruch und damit zur Projektion von Zukunft - dem Gegenteil von Endspiel.

Irgendetwas dieser Art muss der im Gefängnis von San Quentin, USA lebenslänglich einsitzende Rick Cluchey gespürt haben, als dort in den 60er Jahren eine Theatertruppe Warten auf Godot aufführte: Er gründete daraufhin eine Gefängnistheatergruppe, schrieb für diese über dreißig Stücke - aber spielte auch Beckett natürlich. Freigekommen, traf Cluchey Beckett in Paris und erhielt von ihm für Krapp's Last Tape Regie-Beistand. Drei Tage verbrachten die beiden im Tonstudio, um die knapp 30 Minuten Tonband so aufzunehmen, dass der Autor damit zufrieden war: Bis heute eine unverbrauchte Inszenierung und ein Höhepunkt des Festivals.

Was eher nach einer Pflichtübung aussah - ein Podiumsgespräch Beckett und Deutschland - wurde in gewisser Weise zum aufregendsten Kapitel des Programms. Dass er mehrfach in Deutschland gewesen war - 1928, 1936/37 und dann zu Inszenierungen seiner Stücke in den 60er Jahren - will da zunächst noch nicht viel sagen. Dass es mehr als 500 Seiten eines noch unveröffentlichten Deutschen Tagebuchs der zweiten Reise gibt, ist da schon bedeutsamer. Detailliert trugen die Experten Becketts vielfältigen Bezug auf die deutsche Kultur zusammen: seine hervorragende Sprachkenntnisse, die intensive Lektüre deutscher Philosophie und deutscher Lyrik (Heine, Rilke, Morgenstern, Ringelnatz), die er teilweise - wie Goethes Prometheus - auswendig kannte, das lebhafte Interesse an Erinnerungsstätten (Kleists Grab, der Hölderlin-Turm) und noch vieles mehr.

In der Zusammenschau (und deutsche Kultur ist ja nur eine von mehreren Quellen, aus denen Beckett schöpfte - und sicher nicht die wichtigste) werden die scheinbar so minimalistischen Texte zur Summa, zu einer Art Quintessenz europäischen Geistes. Man beginnt zu ahnen, warum wir es hier mit großer, mit objektiver Dichtung - und nicht mit der modisch-subjektiven Genialität eines Einzelnen - zu tun haben. Sie wird im 21. Jahrhundert überleben, und das vor allem auf der Bühne.

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