Die von der SPD-Regierung angezettelte "Innovations"-Diskussion ist ebenso oberflächlich wie unehrlich. Was ihre Oberflächlichkeit anbetrifft, so genügt es, sich die Themen und ihre Träger anzuschauen, die die Adressaten sein sollen: Es ist alter Wein in den Schläuchen neuer Rhetorik, dem blinden Fortschrittsglauben der fünfziger Jahre verpflichtet. Aus den letzten Jahrzehnten katastrophaler Industrie- und Technologiegeschichte mit ihren Umweltzerstörungen und globalen wie lokalen Unterentwicklungen wurde nichts gelernt. Das für unsere Innovations-Prediger ohnehin unerreichbare Traumziel amerikanischer Weltraumfahrt begrüßte Le Monde mit der enthüllenden Begründung: "Der Wohlstand der heute entwickelten Länder wird im 21. Jahrhundert auf ihrer Fähigkeit beruhen, den aufstrebenden Staaten gegenüber einen technologischen Vorsprung zu behalten"! Was statt dessen gebraucht wird, ist nicht "Innovation" als die beschleunigte Fortschreibung der sozial verhängnisvollen Prozesse - globale Massenarmut und lokale Arbeitslosigkeit - und die Rückgewinnung von Deutschlands "Platz an der Sonne" durch "Spitzenforschung" und "Eliteuniversitäten", sondern ein ernsthaftes Nachdenken über das Wissens- und Forschenswerte und -notwendige. Das aber leisten nicht die angesprochenen potenziellen Nobelpreisträger, sondern jene Fächer und Disziplinen, die derzeit an unseren Universitäten systematisch abgebaut und ausgedünnt werden: die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Und man müsste dann auch auf sie hören - wie auf den zu Lebzeiten hoch geehrten Hans Jonas, dessen Prinzip Verantwortung mit der riskanten, "innovativen" Genmanipulation unvereinbar ist.
Das Innovationsgerede ist auch unehrlich oder sagen wir vorsichtiger: inkonsequent und machtblind, weil die politische Klasse nicht auf den Gedanken kommt, sich selbst und die Voraussetzungen, unter denen sie sich konstituiert hat und reproduziert, solchem "innovativem" Denken, also einer Kritik der politischen Strukturen und Prozesse zu stellen. Es sind aber eben diese, und vor allem diese, die dringend nicht nur reform-, sondern von Grund auf veränderungsbedürftig sind - und zwar um der Demokratie, nicht aber um größerer und beschleunigter Entscheidungseffizienz willen. Überall wird heutzutage "evaluiert" - aber von einer urteilenden Bewertung der Institutionen und ihrer Personalstrukturen nach den Kriterien demokratischen Regierens und demokratischer Selbst- und Mitbestimmung ist nicht die Rede. Dabei kann es nicht nur um eine Kritik von Parlamentarismus, Föderalismus und Kommunalpolitik gehen, sondern der real existierende Parteienstaat muss auf den demokratischen Prüfstand. Die Parteien in den liberalen Verfassungsstaaten sind weit davon entfernt - und entfernen sich täglich weiter - für engagierte Bürgerinnen und Bürger attraktiv zu sein, und waren doch einst entstanden als Lösung des Problems, Regierungspersonal und Kontrollorgane durch öffentlichen Wettbewerb zu rekrutieren. Weil die Bürgerinnen und Bürger sich von den zur Klasse mutierten Parteiprofessionellen nicht mehr repräsentiert sehen, weil die großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme hinter einem Schleier von Talkshows und Machterhaltungsrhetorik verschwinden und, aus Angst vor dem Verlust der Wählergunst, nicht mehr offen und ehrlich ausgesprochen werden, hat Politik nur noch Unterhaltungswert. Wen diese Form der Unterhaltung langweilt - und deren Zahl nimmt zu - der zappt zum nächsten Programm.
Stellt euch vor es ist Demokratie, und keiner geht hin" - wer hätte dieses bittere Aperçu für möglich gehalten, als die Republik im 18. Jahrhundert in Nordamerika und Frankreich revolutionär begeisternd aus griechisch-römischen Wurzeln wiederentdeckt wurde? Damals - welche Innovationskraft! Wie beflügelnd der kühne, weil ganz unrealistische Gedanke, jeder erwachsene Mensch, ob arm oder reich, gelehrt oder nur mit Elementarbildung, Städter oder Bauer könnte durch seine Stimme mit entscheiden darüber, wer das Land regieren darf! Und die einmal freigesetzte politische Phantasie steckte sich immer höhere, unerhörtere Ziele: Einschränkungen des Wahlrechts wie Einkommen, Residenz oder Grundbesitz wurden aufgehoben, das Wahlalter, aktiv und passiv, bis aufs Minimum herabgesetzt - jede und jeder sollte den Ministersessel anstreben können. Heute, da das alles graue Wirklichkeit geworden ist, macht man sich kaum mehr Gedanken darüber, wie utopisch dieses Projekt noch vor 250 Jahren gewesen ist, wie unrealistisch das "Ein Mensch, eine Stimme" damals geklungen hat; das Frauenwahlrecht, die letzte große demokratische Errungenschaft, ist noch nicht einmal 100 Jahre alt. Und natürlich sollten wir uns daran erinnern, dass die Politik selbst, als Selbstbestimmung, ebenso wenig vom Himmel fiel oder gar schon immer da war: Sie war eine, vielleicht die größte revolutionäre Erfindung der Gemeinschaftskunst überhaupt, gemacht im fünften vorchristlichen Jahrhundert in der Polis Athen und begründet von deren Philosophen.
Angesichts der Sklerose des Parteienstaates und der Entfremdung der politischen Klasse von den Bürgerinnen und Bürgern, des Zynismus, mit dem selbst die schwindende Zahl derjenigen, die sich überhaupt noch an Wahlen beteiligen, über den sprichwörtlichen Tisch gezogen werden, der systematischen Verdummungsstrategien der Politwerbung, die - wie es die USA und Italien im Extrem vorexerzieren - den Kandidaten mit dem meisten Geld (nicht selten zweifelhaften Ursprungs) den Erfolg sichert, ist es an der Zeit, das unspezifische Wort Willy Brandts "mehr Demokratie wagen" innovativ mit Leben zu füllen. Dazu bedarf es der phantasievollen intellektuellen Anstrengung nicht zuletzt sozialwissenschaftlicher Disziplinen, nachdem buchstäblich Hunderttausende überall in der Welt bereits dabei sind, sich wie soeben in Mumbai/Indien eine eigene politische Öffentlichkeit zu schaffen und neue Formen der Artikulation zumindest des politischen Protestes auszuprobieren. Als der Amerikaner Fukuyama vor 15 Jahren die Wende zum Anlass nahm, das "Ende der Geschichte" auszurufen, hatte er insofern recht, als er auch das auf einen pseudo-philosophiegeschichtlichen Begriff brachte, was den realbegrenzten Horizont der herrschenden (westlichen) Meinung kennzeichnet: Die parteienstaatliche parlamentarische Republik als die einzig denkbare Form demokratischer Selbstregierung und - wenn weltweit durchgesetzt - die Vollendung der Geschichte. Eben diese Schallmauer in unseren Köpfen zu durchstoßen, nach anderen Formen der Partizipation Umschau zu halten und sie auszuprobieren, es nicht nur attraktiv, sondern auch effektiv zu machen, sich an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten erfolgreich zu beteiligen - unter- und außerhalb der von den Parteien monopolistisch okkupierten Parlamente, aber auch durch diese hindurch: Das wäre wohl innovativer denkerischer Anstrengungen wert.
Derzeit wird zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern eine Verwaltungsreform diskutiert und wohl auch beschlossen, die bisher 18 Kreise und kreisfreien Städte zu fünf Kreisen zusammenlegen "um die Verwaltung effektiver zu machen" - wieder ein falscher Schritt in die falsche Richtung von mehr Zentralisation und größerer Bürger-Entfernung. In Berlin wurden mit der selben Begründung noch vor knapp zwei Jahren, und natürlich ohne die Betroffenen zu fragen, historisch gewachsene Bezirke mit hohem Identifikationswert wie Kreuzberg und Friedrichshain, Tempelhof und Schöneberg, Treptow und Köpenick durch Bindestrich-Fusion zusammengelegt; dass die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg an einem "leider" dazu unumgänglichen Volksentscheid gescheitert ist, hindert die an immer mehr Machtkonzentration und Bürgerentmachtung interessierte politische Klasse nicht, es mit Tricks und auf Umwegen erneut zu versuchen - und das ist nur einer der Versuche, den Föderalismus durch Fusionierung weiter auszuhebeln. Nicht, dass die Länder und ihre aufwändigen Parlamente mit ihren Pfründen für Abgeordnete, die immer weniger zu entscheiden haben, Vorbilder von Bürgernähe und regionalem Eigensinn wären - aber doch war und ist die Konstruktion einer Bundes-Republik der richtige Schritt in die richtige Richtung. Und dieser Weg wäre weiter zu gehen, zu den Städten und Gemeinden, die zu stärken und nicht über die Steuerpolitik systematisch zu schwächen wären - als Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger hier Erfolg versprechend und wegen ihrer Nähe zu vielen essenziellen Problemen mit Sachkompetenz zu Wort und Tat melden können. Dezentralisierung, kleinere, überschaubare politische und administrative Einheiten sollten die Leitlinie sein für eine Strategie, die aus Europa keine undurchsichtige und kafkaeske Schlossveranstaltung in Brüssel macht, sondern ein lebendiges, pluralistisches Projekt neuer Politikformen. Der Weimarer Minister Goethe, ein engagierter Europäer und durchaus überzeugt vom Fortschritt deutscher Einheitsbildung, sah sein kleines Herzogtum als Vorbild für volksnahes, hilfreiches Regieren und damit als Alternative zu dem, was die phantasielosen Nationalstaatler nach französischem Vorbild wollten und dann um den Preis von Einigungs- und zwei Weltkriegen auch bekamen: ein von Berlin regiertes Deutsches Reich, das das "Grand Jeu" großer Politik mitspielt. Dort ist ein Stück klassisches Erbe, das historisch zu erinnern und neu anzueignen sich lohnt.
Die Rückgewinnung der "kommunalpolitischen Perspektive" eines "Europas der Kommunen" ist aber nur eine Möglichkeit, über Politik als bürgerliche Selbstbestimmung neu und phantasievoll nachzudenken. Wie steht es um die während der "Wende" erfundenen Runden Tische, die - aus durchsichtigen Gründen - von den eifersüchtigen Parteien sehr bald abgewürgt und aufgelöst wurden? Das war doch ein Versuch, engagierten Menschen, die sonst keine Möglichkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen, eine Plattform zu bieten, brachliegenden Sachverstand öffentlich zu machen, Partizipation zu erweitern. Innovativ nachzudenken wäre eben darüber, wie eine solche Form mit neuem Leben gefüllt und legitimiert werden könnte. Runde Tische auf lokaler Ebene etwa zur erwähnten Gemeindereform, zum Umweltschutz, zur Verkehrsplanung, zu Schulen und Kindergärten, zur Kranken- und Pflegeversicherung. "Wie macht man das?", pflegte Theodor Eschenburg, der große politische Staatsrechtslehrer, uns Studierende zu fragen; man muss darüber nachdenken, ohne Denkverbote. Oder der historisch immer wieder in Krisensituationen auftauchende Gedanke von "Räten", zu Unrecht vorschnell diskreditiert durch die pervertierte "Räterepublik" Sowjetunion: was war gemeint, wie sollten sie funktionieren, ist von ihren Theoretikern nicht doch noch einiges zu lernen? Oder auch zu lernen von der politisch kaum bekannten Schweiz, die schließlich eine real existierende "Räterepublik" ist, von ihrer Referenden-Kultur, von ihren basisdemokratischen Erfahrungen - nicht im Sinne des Aufzeigens der vielen problematischen Aspekte, sondern die große Idee studierend, die der Schweizer Konföderation zugrunde liegt. Oder nehmen wir die in den kommenden Wochen und Monaten berichteten amerikanischen "Vorwahlen", die den Versuch darstellen, alle Bürgerinnen und Bürger, auch und gerade wenn sie keine Parteimitglieder sind, an dem aktiv teilnehmen zu lassen, was noch viel wichtiger ist, als der Wahlakt, nämlich die Kandidatenaufstellung. Warum sollten nicht "innovativ" Vorwahlen in unserem Parteiensystem wenigstens in Erwägung gezogen werden?
Wenn wir schon konstruktiv und phantasievoll über erweiterte, neue Politikformen nachdenken, warum dann nicht auch die Ethnologie um Auskünfte bitten? Einige amerikanische Gründungsväter hielten es für durchaus sinnvoll, sich für ihre Beratungen von der (ungeschriebenen) Föderations-Verfassung der Iroquois-Indianer belehren zu lassen. Kein Geringerer als Max Weber ist für seine Studien über politische Macht in die Tiefen völkerkundlicher Erforschung Ozeaniens hinabgestiegen - warum sollte man nicht dort auch etwas lernen können zum Beispiel über Entscheidungsprozesse, die nicht nach dem Schema Debatte-Abstimmung-Mehrheit ablaufen? Die nehmen zwar mehr Zeit in Anspruch, sind aber dafür konsensual und haben "demokratische Akzeptanz". Sind nicht ohnehin angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen Strategien der "Entschleunigung" von Entscheidungen angesagt, die sowohl mehr Reflexionszeit einräumen als auch die Hemmschwelle für risikoreiche Technologien höher setzen? Nicht nur die vergleichsweise harmlosen Verfassungsänderungen, sondern alle potenziell gefährlichen "Innovationen" wie Embryonal- und Genforschung könnten - neben Beratungen an Runden Tischen - zu ihrer Freigabe einer parlamentarischen Zweidrittel- oder auch Dreiviertel-Mehrheit bedürfen. Die Demokratie ist, so wie die Politik selbst, auch eine Erfindung der Langsamkeit: Sie braucht, um nicht sklerotisch zu verdummen, sowohl Zeit als auch ein Maximum an Mobilisierung bürgerlichen, sachkundigen Engagements. Beides aber gilt der heutigen staatlichen Praxis, die borniert fixiert ist auf den Konkurrenzkampf der Effizienz und das Wettrennen um Spitzenpositionen (deren substanzielle Zwecke - wie der bemannte Marsflug - überhaupt nicht kritisch hinterfragt werden) als ebenso störend, wie den Parteien und Regierungen die Mitspracheforderung von lokalen Bürgerinitiativen bis zum Weltsozialforum. Bei denen aber liegt derzeit die schwache Hoffnung auf politischen Innovationen. Ob sie nachhaltig sein werden, hängt auch von ihrer Legitimation durch die Öffentlichkeit und dem Mut zu flankierender politologischer Phantasie ab.
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