Mimesis des Nemi-Sees

Antike Mythologien Die Berliner Staatsoper Unter den Linden bringt nacheinander Henzes "Phaedra", "Medea" durch Sasha Waltz und Telemanns "Der geduldige Sokrates" zur Aufführung

Was wäre Europa, seine Literatur, seine bildende Kunst, seine Architektur, seine Philosophie, sein Verständnis des Politischen ohne die Ursprünge in der griechischen Antike und vor allem ihrer Mythologie? Selbst der Name Europa ist der jener phönizischen Königstochter, aus deren Verbindung mit Zeus die früheste, die mykenische Kultur entstand. Nur von der Musik, die zum hochpolitischen Theater gehörte, haben wir keine Zeugnisse. Deren "Wiedergeburt" verdanken wir Claudio Monteverdis Orfeo (1607), und seitdem ist die Kunstform Oper eine der großen Bewahrerinnen europäischer Identität geworden und geblieben. Der kreative Umgang mit mythologischen Stoffen gehört zu ihren vornehmsten kulturellen Leistungen. Die Berliner Staatsoper Unter den Linden trägt mit der Präsentation großer Barockopern dazu seit Jahren Bedeutendes bei. Jetzt hat sie mit eindrucksvoller Konsequenz auf die mythologischen Stoffe als Herausforderungen auch für zeitgenössische Komponisten und Dichter mit einer Trilogie hingewiesen, die an die Tradition der griechischen Dionysien erinnert: Zuerst zwei Tragödien, dann eine Komödie - hier also Phaedra und Medea, dann Der geduldige Sokrates.

Den Anfang machte Hans Werner Henzes Phaedra, eine, wie es heißt, "Konzertoper", ein Auftragswerk an den großen, inzwischen alten Mann. Dass es ein Alterswerk ist, hört man ihm nicht sofort an, vielmehr ist die Musik von einer sprechenden Unmittelbarkeit, einer Frische und Sensualität, die instrumental neue Wege einschlägt und sich nicht scheut, zur eigenen Verdeutlichung etwa Sägegeräusche zu erzeugen oder ein Gewitter vom Tonband in die musikalische Handlung zu integrieren. Henze hatte schon früher mythologische Stoffe musikalisch verarbeitet - hier aber kommt noch anderes hinzu: Es ist eine Musik und nicht zuletzt eine Thematik, die aus jener Landschaft entstanden ist, die sich Henze seit Jahrzehnten angeeignet hat - die Albaner Berge in der Nähe Roms, wo der Nemi-See samt verfallenem Heiligtum der Artemis liegt, der Beschützerin des Hippolyt, wo die Götter für ihn atmosphärisch präsent sind. Früher, als er es physisch noch konnte, hatte Henze dort lange Spaziergänge unternommen; jetzt ließ er sie seinen jungen Librettisten Christian Lehnert machen, während er selbst die Musik aus seinen zurückgerufenen "Erinnerungen an visuelle Ereignisse auf fast täglichen Wanderungen oberhalb des Albaner Sees" komponierte. Man sollte das geradezu anrührend nüchtern-sachliche Phaedra Tagebuch (Wagenbach Verlag) dazu lesen, das die melancholische Selbstmythologisierung des alternden Komponisten ahnen lässt, die seiner Auseinandersetzung mit diesem alten Stoff zugrunde liegt. Henze blickt da - wozu jeder ernsthafte Umgang mit den großen Mythen zwingt - in einen Spiegel. Im Falle der Geschichte von Hippolyt und Phaedra, von Artemis und Aphrodite reflektiert der ihm Liebe, Tod und das Überleben in der Erinnerung. Die Natur, die Landschaft, spielt dabei auch musikalisch eine entscheidende Rolle.

Leider bietet die Inszenierung von Peter Mussbach keine Hilfestellung zum besseren Verständnis von Henze/Lehnerts Lesart des Mythos. Im Gegenteil. Weil er "nicht bebildern" wollte, entschied sich Mussbach zur radikalen Absage an jeden im Libretto vorgegebenen Hinweis auf Örtlichkeiten (Labyrinth, Käfig, Palast, Wald) und ersetzte sie durch eine optisch faszinierende Großraum-Lichtskulptur mit Vexierspiegelwand, schwebenden Lichtringen und anderen verblüffenden Effekten des international erfolgreichen Künstlers Olafur Eliasson, die Raum und Zeit absichtsvoll verwirrt und dabei der Geschichte jeden Halt und jede Bodenhaftung verweigert. So wird Henzes sinnliche Musik szenisch systematisch entsinnlicht, einschließlich der vier paarweise über Kreuz aufeinander bezogenen Figuren - zwei Göttinnen im Streit um zwei Menschen -, die von Bernd Skodzig so streng kostümiert wurden, dass es, zusätzlich zur fast völligen Textunverständlichkeit, schwerfällt, sie in ihren Rollen auseinanderzuhalten. Das kleine Kammerorchester Ensemble Modern, wunderbar durchsichtig geführt von Michael Boder, spielt im Rücken des zweigeteilten Parketts und die vier Gesangssolisten der "Konzertoper" bewegen sich auf einem Laufsteg mitten durchs Publikum, wo sie körpersprachlich so etwas wie Handlung markieren. Für ihre künstlerischen Leistungen und die ungewöhnliche Raumbespielung gibt es am Ende verdienten Applaus. Als Ganzes aber bleibt es eine elitäre, um nicht zu sagen intellektuell arrogante Veranstaltung: Wer sich nicht mit dem Phädra-Stoff zuvor ausführlich beschäftigt und das Libretto im wie immer prätentiös aufgemachten Programmbuch wenigstens eine Stunde vorher sorgfältig gelesen hat, der dürfte als bloßer Zuhörer dieser jede Kommunikation mit ihm als Zuschauer verweigernden Inszenierung kaum einen artikulierbaren, bleibenden Gewinn mit nach Hause nehmen. Aber weil das niemand zugeben will, ist der Schlussbeifall um so größer.

Ganz anders die Medea, wenige Tage später: Hier gelingt es Sasha Waltz noch ehe der Zuschauer Platz genommen hat, durch einen blutroten bis in den Orchestergraben verlängerten Vorhang, durch einen durchdringenden elektronischen Ton und dann die sich schließenden Saaltüren sofort eine beängstigende Atmosphäre zu schaffen. Erzählt wird mit den Mitteln archaisierenden Tanzes, einer unaufdringlich begleitenden - nicht wie bei Henze selbstständig erzählenden - Musik (Pascal Dusapin) und einem mit wunderbar schlanker Stimme gesungenen Monolog (Caroline Stein) die Zeiten überdauernde, unheimliche Geschichte nach dem Text von Heiner Müllers Medeamaterial. Die Geschichte der Frau aus dem barbarischen Kolchis, die nach Griechenland flieht und dort von ihrem Mann Jason verlassen wird, wofür sie sich rächt mit dem Mord an dessen neuer Frau und an den beiden Kindern, die sie mit ihm hatte. Die furchtbare Geschichte wird hier so unversöhnlich erschreckend hör- und sichtbar gemacht, wie sie es verlangt. Schließlich handelt es sich um eine Geschichte zur Kritik unserer europäischen Frühzeit: Die griechische Mythologie bewahrt nicht nur kriegerische Heldentaten auf.

Für die Magie eines Opernabends wird die Bühne zum Schauplatz einer ungewöhnlichen Vergegenwärtigung. Wurde - denn von Medea wurden leider nur fünf Vorstellungen gezeigt. Andererseits gibt es bis Mitte November eine Fortsetzung und Weiterarbeit an dem unerschöpflichen Stoff mit "Medeamorphosen": Workshops für Kinder, Musikprogramme, Lesungen und Ausstellungen am Spreeufer nahe des am Ostbahnhof gelegenen Radialsystems.

Nach den beiden Schwergewichten dann also die leichte Seite der Antiken-Erinnerung. Gut 100 Jahre nach Monteverdi wurde Georg Philip Telemann als Direktor der wichtigen Hamburger Oper am Gänsemarkt so etwas wie dessen deutscher Nachfahre. Mit Der geduldige Sokrates gab er 1721 seinen erfolgreichen Einstand in Hamburg, und wenigstens stofflich legitimiert sich diese Ausgrabung von René Jacobs zur Abrundung der vorhergegangenen Tragödien nun in Berlin: Schon in Athen war Sokrates Zielscheibe des Spottes des großen Komödiendichters Aristophanes gewesen, dem eine der vielen lustigen Rollen in Telemanns Oper zugedacht wurde. Es ist ein vergnüglicher Abend, den Nigel Lowery und Amir Hosseinpour einfallsreich inszeniert, präzise choreographiert, amüsant kostümiert und phantasievoll bebildert haben. Und auch wenn sich die mehr als vier Stunden arg in die Länge ziehen, weil der brave musikalische Handwerker Telemann eben kein Monteverdi war (und schon gar kein Bach, als dem ebenbürtig er damals galt): Wer bis zum Schluss durchhält, der wird mit einer wunderbaren Arie der Xantippe belohnt, die den Vergleich mit dem besten Händel aushält (auch ob ihrer komödiantischen Qualitäten zurecht bejubelt: Inga Kalna), und mit einem schwungvollen Finale entlassen, das all die Längen und den faden Witz des fürs damalige Hamburger Kaufmannspublikum anscheinend unterhaltsamen Textes vergessen machen.

Als Glücksfall des kulturellen Opern-Diskurses darf man zuletzt begrüßen, dass die Deutsche Oper Berlin - mit mehreren Gratis-Veranstaltungen im Vorlauf - im November ebenfalls zwei antike Stoffe zur Diskussion stellt: Cassandra von Vittorio Gnecchi und Elektra von Richard Strauß.


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