Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es so etwas wie Hoffnung auf der Bühne der internationalen Politik, denn der „Ruck“, der durch die amerikanische Gesellschaft gegangen ist, der eigentlich realistischerweise unerwartete Erfolg einer demokratischen Massenmobilisierung, wird nicht ohne mittel- und langfristige Folgen bleiben. Das schließt kurzfristig eine pragmatische Kontinuität in der Komposition der amerikanischen politischen Klasse nicht aus: Wenn dieser Präsident wirklich etwas bewegen und nicht an der eingefahrenen Maschinerie der Washingtoner Bürokratie idealistisch scheitern will, muss er wohl zunächst einmal mit einem Personal arbeiten, das mit dem Behördenapparat und einer komplizierten Gesetzgebungsmaschinerie umzugehen versteht, um über die magischen „100 Tage“, um nicht zu sagen: die ersten beiden Jahre unbeschädigt hinauszukommen. Einige der pragmatischen Personalentscheidungen, die viele seiner Anhänger verstört haben, würden missverstanden, wenn man sie bereits als erste Anzeichen des Einknickens vor dem Establishment und als Verrat der großen Wahlversprechen interpretierte.
Was kann ein einzelner gutwilliger Mann im Weißen Haus schon ausrichten?
Wie reagiert die deutsche Linke auf diese ganz andere als die gewohnte rechts-konservative amerikanische Herausforderung? Wobei hier die Linke nicht parteipolitisch sondern als jenes außerparlamentarisches Spektrum gemeint ist, das als Friedens-, Ökologie- und Antimilitarismus-Bewegung noch immer erfreulich lebendig ist und zuerst der alten Bundesrepublik, dann dem heutigen Deutschland den stolzen Namen der „Bewegungsrepublik“ eingetragen hat. In Sachen Obama scheint sie skeptisch bis pessimistisch zu reagieren hinsichtlich der Möglichkeiten eines Wandels zum Besseren: Man müsse doch sehen, dass die realen Interessen der USA, dass der weltweit operierende Militärapparat mit seinen Stützpunkten in allen Kontinenten nicht abgebaut werde, dass der Imperialismus und die kapitalistischen Interessen mächtiger seien als ein einzelner gutwilliger Mann im Weißen Haus (der ohnehin bereits dabei sei, seinen Frieden mit den real existierenden Verhältnissen zu machen), dass ohne eine radikal andere Gesellschaftspolitik keine Aussicht auf eine substanziell andere als die bisherige Außenpolitik bestünde; alles andere sei Wunschdenken. Und das beträfe auch unmittelbar die Chancen einer friedenspolitischen Wende – sei es für die atomare, sei es für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Nun mag da an jedem der Kritikpunkte etwas Wahres sein, es mag sein, dass die „Obamania“ einer realpolitischen Enttäuschung weicht – es könnte aber auch nicht sein. Es mag auch sein, dass während dieses unvergleichlich intensiven Wahlkampfs, zuerst um die Nominierung, dann gegen den republikanischen Gegner, eine basisbewegte Dynamik und Energie freigesetzt wurde, die dem anderen so massenwirksamen Appell „Yes, we can!“, angetrieben vom tiefsitzenden Krisenbewusstsein aller Gesellschaftsschichten den Boden fruchtbar gemacht hat für die Akzeptanz radikaler neuer Antworten. Mit einem Präsidenten Obama öffnet sich das, was so trefflich auf englisch „the window of opportunities“ heißt, das Fenster der Möglichkeiten. Möglichkeiten – keine Gewissheiten.
Realistisch sein und das Unmögliche fordern
Die deutschen außerparlamentarischen Bewegungen, die demokratischen Verwandten der US-Obama-Enthusiasten, scheinen dieses Fenster der Möglichkeiten nicht zu sehen und darum auch nicht nutzen zu wollen. Skepsis überwiegt, Abwarten, realpolitische Resignation. Die historischen Erfahrungen unserer Generation geben wahrlich genügend Anlass zu Pessimismus bis Zynismus hinsichtlich der Korruption von Befreiungs- und demokratischen Reformbewegungen an der Macht. Und doch ist eine solche Haltung für eine pazifistische, sozial-radikale Linke tödlich, ein defätistischer Widerspruch politischer Identität. Worin besteht diese spezifische Identität wenn nicht in dem unübertrefflich formulierten 68er-Selbstverständnis: „Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche.“
Ohne die realistische Perspektive des Unmöglichen gibt sie sich auf, noch ehe sie für ihre Ziele zu kämpfen begonnen hat. Da wird beispielsweise noch immer (gottseidank!) in Broschüren und Flugblättern die „Abschaffung der Bundeswehr“gefordert, die „Auflösung der NATO“ oder doch wenigstens „Austritt Deutschlands aus der NATO“ gefordert – wenn das keine unrealistischen, aber eben doch („Yes, we can “) prinzipiell realisierbaren Forderungen sind! Aber nur eine solche Bewegung kann sie halbwegs glaubwürdig aufrechterhalten, die nicht nur von der prinzipiellen Notwendigkeit, sondern auch von der Möglichkeit ihrer Verwirklichung überzeugt ist, selbst wenn die eigene Lebenszeit dazu nicht ausreichen wird. Ohne den Mut zum Optimismus geht es nicht – ohne ihn hätten die viele hunderttausende Obama-Aktivisten es nicht durchgehalten, gegen alle Wahrscheinlichkeiten ihrem Mann den Wahlsieg zu erkämpfen.
Die Welt muss Obama an seine Versprechen erinnern
Gleichwohl ist damit noch nichts wirklich gewonnen: Als Präsident wird er dann mit Sicherheit scheitern, wenn er eben die kritisch-solidarische Unterstützung nicht nur seiner amerikanischen Wähler, sondern auch seiner Sympathisanten weltweit verliert – oder umgekehrt: Eine erfolgreiche politische Wende kann es nur dann geben, wenn eine lautstarke internationale Solidarität Obama ständig an seine Wahlversprechen erinnert, indem sie sich selbst in Bewegung setzt, Mut fasst, sich selbst zuzurufen: "Ja, wir können es auch".
Auf das deutsche politische Establishment wird schon seit Jahren von unten, von der Basis, ebenso wie vom intellektuellen Lager kein ernsthafter Druck ausgeübt, auf die Weltkrisen strategisch-innovativ anstatt nur taktisch-reaktiv zu reagieren. Sie werden weitgehend in Ruhe gelassen – wer will schon gegen eine profillose Angela Merkel auf die Straße gehen. Der Bürgerprotest gegen die versteinerten Verhältnisse besteht bestenfalls aus Politikverweigerung: Man geht nicht mehr zu Wahl. Und unsere außerparlamentarische Linke scheint vor lauter kritischer Realitätsfixiertheit die sich für einige Monate – vielleicht auch Jahre – in den USA bietende Chance des geöffneten Fensters der Möglichkeiten nicht wahrzunehmen: Man muss sich schon sehr anstrengen, um Anzeichen für eigene Bewegungen in Richtung auf eine öffentliche Debatte über politische Antworten auf die von der Finanzkrise nur verschärften, aber nicht verursachten Herausforderungen (Klima, Energie, Demographie, Ernährung) zu entdecken. Aber wenn das nun schon so ist: Warum dann nicht die „amerikanische Chance“ wahrnehmen?
Ekkehart Krippendorff war Professor für Anglistik und Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist inzwischen emeritiert.
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