Neue deutsche Friedfertigkeit

Pazifismus Militär und Krieg sind keine Vehikel staatspolitischer Bewusstseinsbildung mehr. Das lässt sich nicht nur der aktuellen Strategie-Debatte über Afghanistan entnehmen

Man mag über die Aufarbeitung unserer traumatischen Vergangenheit denken, wie man will, aber es gibt nach den Erfahrungen zweier Weltkriege doch so etwas wie eine relative Konstante im "kulturellen Gedächtnis": Kriegs- und Militärmüdigkeit. Zu erinnern ist an die Tricks, ohne die Adenauer die Wiederbewaffnung hinter dem Rücken von Parlament und Kabinett (Rücktritt Gustav Heinemanns) gegen den Widerstand der Bevölkerung nicht hätte durchsetzen können. Der Ausruf von Carlo Schmid (1946): „Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kasernen schicken!“ oder auch Franz-Josef-Strauß’ opportunistische Demagogie “Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen” (1947) reflektierten den Zeitgeist bis weit in die fünfziger Jahre. Die schließliche Akzeptanz der Bundeswehr – erleichtert durch das Versprechen vom „Bürger in Uniform“ – hielt durch bis zum Wendejahr 1989, als die Bundesrepublik unversehens keinen Feind mehr hatte, und darum die auf strikte Landesverteidigung vereidigten Streitkräfte gewissermaßen ohne Legitimation dastanden: Wäre damals ein Referendum über ihren Fortbestand abhaltbar gewesen – sie hätten es kaum überlebt.

Großer unter den Mittleren

Doch dann marschierte im August 1990 Saddam Hussein in Kuwait ein und bescherte den deutschen Strategieplanern ein neues Bedrohungsszenario, das unter anderem den Einsatz der Marine zur Sicherung lebenswichtiger Handelswege und Rohstofftransfers vorsah. Zur breiten öffentlichen Akzeptanz einer aktiven Out-of-Area-Rolle für das deutsche Militär reichte es jedoch nicht aus. Vergebens bemühten sich Regierung, Opposition und nicht zuletzt die Medien, den Deutschen klarzumachen, dass sie nun weltpolitische Verantwortung zu übernehmen hätten und sich nicht mehr unter dem Schirm der USA einer Gratis-Sicherheit erfreuen könnten. Solches wurde die landauf landab meinungspublizistisch propagierte militärstrategische Staatsräson. Die politische Klasse wollte dazugehören und nicht auf Dauer ausgeschlossen sein von der Großen Politik – sie wollte als selbst ernannter “Exportweltmeister” ein Mitspieler – ein Großer unter den Mittleren – sein.

Der Realismus dieses “außenpolitischen Weltbildes” lag auch den zwar taktisch ungeschickten, aber durchaus realpolitischen Bemerkungen zugrunde, die Bundespräsident Köhler sein Amt kosteten: Er hat mit einer gewissen realistischen Naivität nur das ausgesprochen, was alle Beteiligten auf der Chefetage der deutschen Politik selbstverständlich wissen, nur klugerweise nicht aussprechen: Die Lebenslüge deutscher Außenpolitik von der reinen Friedens- und Demokratiemission ihrer Militäreinsätze im Ausland war offenbart. Adressat seiner Offenherzigkeit war das militärskeptische, sich staatspolitischen Notwendigkeiten nicht fügende deutsche Wählerpublikum. Denn die Konstante einer mehrheitlichen Militär- und Kriegsverweigerung seit 1945 war und ist noch immer weitgehend ungebrochen. Nicht zuletzt die Friedensbewegung der achtziger Jahre hatte der bis dahin passiven Verweigerung eine erhebliche Schubkraft verschafft und – wie der hier besonders einschlägige Historiker Wolfram Wette formulierte – das “Fundament einer gesellschaftlich breit verankerten Mentalität der Friedfertigkeit, die es so in Deutschland früher nicht gegeben hat”, zum Vorschein gebracht – sehr zur Verunsicherung der “realpolitisch” sozialisierten politischen Klasse. Im Grunde hat Horst Köhler ihr mit seinen Anmerkungen einen Dienst erweisen wollen, erkannte er doch, dass die deutschen Wähler-Bürger offenbar einer kräftigen Schulung in Sachen Weltpolitik bedürfen und aufgeklärt werden müssen über den militärischen Preis ihres Wohlstandes.

Die Bundesregierung und alle im Parlament vertretenen staatstragenden Parteien – mit Ausnahme der Linken – bemühen sich geradezu verzweifelt, ihrem Volk die mehrheitliche Ablehnung der deutschen Afghanistan-Präsenz mit realpolitischer Logik auszutreiben und davon zu überzeugen, dass deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigt werden muss. Bisher ohne Erfolg.

Noch im April klagte Reinhold Robbe, seinerzeit Wehrbeauftragter des Bundestages, es sei „auf Dauer nicht tragbar“, dass ständig Umfragen veröffentlicht würden, in denen sich eine Mehrheit gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ausspreche: Nur noch 13 Prozent hielten diesen für sinnvoll – ein dramatischer Legitimitätsverlust und symptomatisch für den Mangel an welt- und realpolitischer Bildung. Die Ablehnung resultiere aus dem, was Robbe euphemistisch fehlende „gesellschaftliche Anerkennung“ der Soldaten nennt, die er mittels eines Runden Tisches in „aufrichtige Zuwendung“ umzuwandeln hofft.

Deutscher Sonderweg

Vor etwas mehr als 100 Jahren hat Max Weber für das Kaiserreich einen Befund mangelnder “politischer Reife der breiten Massen” diagnostiziert: Wenn ihnen “die Abhängigkeit ihrer ökonomischen Blüte von ihrer politischen Machtlage nicht täglich vor Augen geführt wird, wohnen die Instinkte für diese spezifischen Interessen nicht in den breiten Massen der Nation. Es wäre ungerecht, sie von ihnen zu beanspruchen. Nur in großen Momenten, im Fall des Krieges, tritt auch ihnen die Bedeutung der nationalen Macht vor die Seele.”

Der Krieg als Vehikel staatspolitischer Bewusstseinsbildung – das hat auch unsere politische Klasse erkannt und rituell umgesetzt: Ein Soldatenehrenmal im Berliner Bendlerblock wurde gerade rechtzeitig fertiggestellt, um im April sechs in Afghanistan umgekommene Soldaten als für den Staat geopferte Menschenleben würdig, und das heißt – vor allem in mediengerechter Großinszenierung – die letzte Ehrung zu erweisen: Eine transpolitische Sinnstiftung des rational dem unverstellten Verstand nicht vermittelbaren gewaltsamen Todes, dessen tieferer Sinn aber in eben der Erziehung des Volkes zu weltpolitischer Verantwortung besteht und in der uralten Legitimation von Krieg als Preis für das Mitspielen der politischen Klasse in der Oberliga der Staatengemeinschaft.

Allerdings trifft das in Deutschland auf einen Mentalitätswandel, der die vom eigenen Militarismus verursachten Katastrophen reflektiert. Nur in Deutschland gab es schon in der Weimarer Republik das Phänomen der “pazifistischen Offiziere”. Ein deutsches Paradoxon ebenso wie der Begriff des “patriotischen Pazifisten” – Menschen, die aus den Erfahrungen des Weltkrieges gelernt hatten. Sie bereiteten jene veränderte Mentalität vor, die nach 1945 mehrheitsfähig werden konnte: Ein deutscher “Sonderweg”, so wie der Militarismus einer war.

Nur in Deutschland konnte es daher jenen terminologischen Eiertanz geben um die von der Empirie längst beantwortete Frage, ob der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nun “Krieg” sei oder nicht. Dahinter steht die Scheu, dem Volk die schlichte Wahrheit nicht zumuten zu wollen: Die Bundesrepublik führt Krieg und schlittert sehenden Auges immer tiefer in diesen Morast. Darum ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob das bisher nur negativ wahrgenommene Potential der deutschen Militärgegnerschaft, ihre landläufig als Pazifismus bezeichnete Haltung, nicht konstruktiv realisierbare Perspektiven enthält, die es verdienen, geprüft zu werden. Dabei ist erstens zu beachten, dass es den Pazifismus als kodifizierte Weltanschauung nicht gibt: Die Spannweite des Begriffs reicht von der in seiner Radikalität einmaligen Existenz Mahatma Gandhis über den österreichischen Bauern Franz Jägerstätter, der Hitler den Kriegsdienst verweigerte und dafür willig in den Tod ging, bis zum bedingungslos gewaltfreien Nelson Mandela. Zweitens sollten Haltungen beachtet werden, die mit dem Potential einer pazifistisch grundierten Kriegs- und Militärgegnerschaft konstruktiv umzugehen wissen und einen deutschen Sonderweg in der Weltstaatengesellschaft zu erkunden bereit sind. Ihr Credo heißt nicht waffenlose Tatenlosigkeit, sondern aktives, gewaltfreies Engagement deutscher Außenpolitik – heißt nicht-militärische Intervention bei sozio-politischen Großkonflikten. Die Arbeitshypothese pazifistischer Forscher lautet, dass es prinzipiell für jeden politischen Konflikt eine gewaltfreie Lösung gibt. Nur ist die in der Regel die schwierigste, die am meisten Geduld erfordernde. Sie hat mit größten Widerständen zu rechnen, weil sie den gängigen und tradierten Techniken und Taktiken des Politikgeschäfts zuwider läuft. So schrieb Max Weber 1916 der Schriftstellerin Gertrud Bäumer: “Wer eine Welt der diesseitigen Kultur bejaht, der möge wissen, dass er an die Gesetzlichkeiten der diesseitigen Welt gebunden ist, die auf unabsehbare Zeit die Möglichkeit und Unvermeidbarkeit des Machtkrieges einschließen.”

Dem steht die ermutigende Mitteilung Goethes entgegen: “In der Idee leben heißt das unmögliche handeln, als wenn es möglich wäre.” Und Pazifisten, welcher Couleur auch immer, leben “in der Idee”: Ob es ein Daniel Barenboim ist, der – inspiriert von Goethes Vision des interkulturellen Islam-Dialogs – 1999 in Weimar mit arabischen und israelischen Musikern das “West-East Divan Orchestra” gründete. Oder ob es die zahlreichen palästinensisch-israelischen Lehr- und Lernprojekte sind, die oft von jungen Deutschen initiiert wurden. Oder die 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Ärzte ohne Grenzen – die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist nicht nur im Meinungsbild friedfertig geworden, ihr Pazifismus war und ist auch einer der Tat, des humanitären Engagements, das ihr näher liegt als ein von der Regierung betriebenes Peace Enforcing, das Frieden mit Waffen schaffen will. Mit Maschinenpistolen im Anschlag lassen sich keine Dialoge zwischen Streitenden führen.

Friedensbrigaden für die UNO

Wieder einmal wird über den militärisch inzwischen völlig unsinnigen Wehrdienst diskutiert. Wie wäre es, wenn die Bundesrepublik einen gleichwertigen Friedensdienst einrichtete: Männer und Frauen würden ein Jahr lang in Konfliktprävention und –mediation ausgebildet, sie wären ausgerüstet mit ökonomischem, soziologischem, sozialpsychologischem und kommunikativem Grundwissen (das steht abrufbar in den Dossiers der Friedens- und Konfliktforscher). Und dann würden der UNO "Friedensbrigaden“ zur Verfügung gestellt. Sollen andere Staaten ihr politisches Glück mit Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen versuchen – Deutschland offeriert als alternatives Konkurrenzmodell die gewaltfreie Intervention ausgebildeter Friedensexperten.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist ein solches Projekt nicht durchsetzbar – jedenfalls nicht ohne einen Mentalitätswandel unserer politischen Klasse und der Medien-Öffentlichkeit. Aber den Versuch wenigstens des gedanklichen Experiments sollte es wert sein. Nelson Mandela war 27 Jahre lang der einschüchternde Beweis für das realpolitische Scheitern seiner nur in der Idee lebendigen Wahrheit; die burmesische Trägerin des Friedensnobelpreises Aung San Suu Kyi lebt seit 14 Jahren in Arrest, ohne ihre Idee einer zivilen demokratischen Regierung an die Wirklichkeit zu verraten. Aktive Pazifisten müssen nicht nur Stärke, sondern auch Geduld mitbringen im Vertrauen auf die langfristige Möglichkeit des heute unmöglich Erscheinenden. Wenn das absehbare Scheitern auch des deutschen Teils des Afghanistan-Krieges eintritt und immer mehr Namen auf dem Opferaltar in Berlin eingetragen werden müssen, dann hat der Pazifismus eine ernsthafte Chance. Darauf kann man sich vorbereiten.

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