Neues Jerusalem

Gottesreiche Die USA und Israel sehen sich als Allianz der Auserwählten

Staaten, seit es sie gibt, kommen und gehen. Sie werden zusammengelegt oder zerfallen wieder, verschwinden in größeren Einheiten oder werden von neuen Herrschern aus alten Dynastien gegründet. Unter den Staaten der Moderne gibt es zwei - nur zwei! - die nicht diesen Mustern folgen, die anderen Ursprungs sind, die sich bis heute qualitativ von allen anderen Mitgliedern der Welt-Staatengesellschaft unterscheiden: Israel und die USA. Sie sind verbündet durch Dimensionen und historische Erfahrungen, die jede pragmatisch-rationale Logik außenpolitischer Bündnisse transzendiert. Ohne diese Tiefenschichten ist weder ihr jeweiliges politisches Verhalten noch die offensichtliche "uneingeschränkte Solidarität" der Großmacht mit dem Kleinstaat zu erklären - vieles andere auch nicht.
USA und Israel, das sind die einzigen erfolgreichen staatlichen Neugründungen der Moderne, die zugleich ein historisches und alles andere als abgeschlossenes Projekt verfolgen. Beide sind Ein- beziehungsweise Auswanderungsprojekte - aber mit für die Auswanderer keineswegs beliebigen territorialen Zielen. Die aus England mit der berühmten Mayflower fliehenden Pilgrimfathers hofften in New England ein Gottesreich zu errichten, eine religiöse Gemeinschaft politisch zu gründen - und sie sahen in diesem Land die Verheißung eines Neuen Israel: Die "City upon a Hill" war die poetische Metapher puritanischer Religiosität für das sich aus der "wilderness" eines Tages erhebende Neue Jerusalem - Hoffnungen und kollektive Erwartungen, die sich dann auf die Republik projizieren ließen. Und diese selbst wurde nun das eigentliche politische Projekt, getragen und realisiert von den an den Idealen der Aufklärung orientierten Mittel- und Oberschichten der englischen Kolonien: Deren kühne, die soziale Wirklichkeit der Sklaverei sogar zunächst mutig ignorierende Unabhängigkeitserklärung von 1776, "that all men are created equal", war der erste Schritt zur politischen Verwirklichung der Aufklärung, woran deren europäische Vordenker nur im Traum zu denken wagten. Es bedurfte offensichtlich einer Neuen Welt - "ohne Basalte und verfallene Schlösser" (Goethe) - um das zum Ereignis werden zu lassen und vom Himmel der Ideen auf die Erde zu holen.
Wesensverwandt damit die Verwirklichung der großen Utopie eines Staates für die überall verfolgten Juden, die trotz aller Angebote der Integration durch religiöse und geistige Selbstverleugnung an ihrer Identität unbeirrt festgehalten hatten. Es war ein Traum, der von Theodor Herzl in Wien gegen allen Realitätssinn geträumt worden war und der dann doch 1948 zum Staat Israel wurde. Nicht irgendwo, sondern in eben dem Land, aus dem die Juden vor 2000 Jahren vertrieben worden waren. Jerusalem war immer das geheime, heilige, spirituelle Zentrum für die Diaspora geblieben. Eingegangen in den verwirklichten Traum Israel sind aber auch die großen Ideen der europäischen sozialistischen Bewegungen: die Kibbuzim, auch wenn heute ohne politisches Gewicht, versprachen jene Keimzellen nicht-kapitalistischer Produktions- und Lebensweisen zu werden, die in Europa nur im Reiche der Spekulation angesiedelt waren.
Der junge Staat hatte einen erbitterten Überlebenskrieg zu führen, den die Juden wider alle realpolitische und militärische Vernunft gewannen - David gegen Goliath - und sie begründeten damit ein weiteres Stück Schicksalsgemeinschaft mit den USA: Auch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hätte verloren gehen können, der Sieg war angesichts der Kräfteverhältnisse alles andere als ausgemacht. Beiden jungen Nationen hat diese Erfahrung das kollektive Gedächtnis gestiftet, sich gegen eine überwältigende feindliche Umwelt behauptet und darum nicht nur die Geschichte, sondern auch Gott letztlich auf ihrer Seite zu haben: Beide sehen sich als erwiesenermaßen "auserwählte Völker". Als solche stehen sie im Selbstverständnis auch beide über einem Völkerrecht, das sich die anderen, die normalen Staaten, gegeben haben. Die historischen Zwecke von Israel und den USA heiligen vor der Geschichte alle Mittel der Sicherung ihres Überlebens.
Beide Gesellschaftsprojekte gründeten ihren Staat auf Territorien, die keineswegs unbesiedelt waren. Beide ignorierten und verdrängten die Existenz der dort bereits lebenden Menschen, nahmen sie entweder als politische Subjekte nicht zur Kenntnis oder nicht ernst: Den Indianern wurden Reservate zugewiesen, und für den Staat Israel galt bis vor kurzem, was Golda Meir erklärt hatte: "Ein palästinensisches Volk gibt es nicht".
Beide, die USA und Israel, sind "künstliche Staaten", will sagen: sie verdanken sich keiner dynastischen oder anderen Herrschaftsgeschichte. Als politische Projekte sind sie darum im emphatischen Sinne des Wortes Kunst-Werke - Werke der Kunst des Politischen, die einzigen Erfolgreichen der Moderne. Eben darum haben sie und nur sie weltweite Reaktionen hervorgerufen, die etikettierbar geworden sind: Anti-Amerikanismus für Kritik an den USA (wenn doch meist nur Regierungshandeln gemeint ist, welches das Projekt zu verraten droht), und Antisemitismus als griffige Projektion einer europäischen Geisteskrankheit auf die Kritik auch leidenschaftlich sympathisierender Nicht-Juden an der Praxis des israelischen Staates.
Es hat noch zwei weitere vergleichbare politische Kunstwerke der Moderne gegeben: Das eine war die aus der Revolution hervorgegangene Französische Republik - sie aber wurde alsbald nationalisiert und damit ihres universalistischen Anspruches beraubt. Das zweite war das ebenfalls auf eine völlig neue Weltordnung hin angelegte Projekt einer Union sozialistischer Räterepubliken. Dort wurde schon wenige Jahre nach seiner Geburt die Axt der Zerstörung an die Wurzeln dieses von Sozialisten und Radikaldemokraten weltweit als mögliches Modell einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft gelegt: Schon die vor-stalinsche politische Führung verbat sich nicht nur jede Kritik von innen, sondern auch die solidarische von außen, erklärte sie pauschal zum "Antikommunismus" und forderte uneingeschränkte Solidarität mit der Parteiführung in Moskau - bei Strafe auch physischer Vernichtung. Die Sowjetunion war geistig und politisch längst tot, als sie 1991 zerfiel - Opfer ihrer Unfähigkeit, sich durch anteilnehmende Kritik lebendig zu erneuern.
Ganz so weit gehen die Regierungen Israels und der USA nicht - aber das historische Exempel sollte eine Warnung und Mahnung sein. Beider Projekte sind "Menschheitsprojekte" in dem Sinne, dass an ihrem Gelingen die politische Menschheit ein existenzielles Interesse hat. Der Maßstab, an dem dieses Gelingen immer wieder zu messen ist, ist der große Entwurf des eigenen historischen Anspruchs auf eine Weltrolle. Nicht um das äußere, das machtpolitische Überleben geht es, das bei keinem von beiden mehr auf dem Spiele steht, sondern um das Projekt: Die aufgeklärte Selbstbestimmung einer freien Bürgerschaft, die Überwindung des Nationalstaates zugunsten eines qualitativ anderen Staates mit einer historisch neuen, friedlichen Politik des guten Beispiels für die Alte Welt und die in solch neuer Staatlichkeit aufgehobene transkulturelle Pluralität.
Denn auch das hat Israel mit den USA gemeinsam: den jüdischen ethnischen Pluralismus als Konstituens des Staates. Seit seiner Gründung hat er mit der Integration von Juden extrem unterschiedlicher Herkunft aus West-, Süd- und Osteuropa, aus den arabischen Ländern, aus Indien und Afrika höchst Eindrucksvolles geleistet (welche andere Gesellschaft vereinigt so viel Heterogenität auf so kleinem Raum?). Heute und in Zukunft aber muss sich dieser Staat der um ein Vielfaches schwierigeren Aufgabe des kooperativen Zusammenlebens mit Palästinensern innerhalb und außerhalb seiner Grenzen stellen. Bisher war und ist der funktionierende israelische Rechtsstaat faktisch eine ethnische, also keine ehrliche Demokratie und verrät - oder verdrängt und vergisst - das geistig-politische Erbe eines der kritischen Gründungsväter Israels und großen Welt-Weisen, Martin Buber, für den der arabisch-israelische Dialog das Fundament "für etwas Größeres, als nur ein Staat unter den Staaten der Welt zu sein" war. Ebenso verräterisch-vergesslich scheint Amerika mit den großen Idealen seiner Revolution - dem geistigen "Weltkulturerbe Aufklärung" - umzugehen. Auch darum ist die anteilnehmende Kritik von Nicht-Amerikanern und Nicht-Juden ein integraler Bestandteil beider mit dem Schicksal gegenwärtiger und künftiger Weltgesellschaft unauflösbar verknüpften Projekte. Sie einzuschüchtern durch moralische Kriminalisierung ("wer nicht für uns ist, ist gegen uns" - George Bush) oder durch pauschalen Antisemitismus-Verdacht beschädigt nur die israelische so gut wie die amerikanische Sache, die eben nicht nur deren Sache ist.

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