Probierstein einer Friedenskultur

PALÄSTINA/ISRAEL Wieder einmal werden nur die verschlissenen und zerstörerischen Handlungsmuster der Realpolitik bemüht

In der Alchemie hat ein Probierstein die Funktion, echtes Gold von falschem, das Wahre vom nur oberflächlich glänzenden Imitat, dem Unwahren, zu unterscheiden, das zwar dem Augenschein einleuchtet aber sich - vom Probierstein berührt - als tot und leer erweist. Vor einiger Zeit stellte der Israel-Korrespondent einer großen deutschen Tageszeitung seiner Berichterstattung über den Auslöser der derzeitigen Katastrophe eine kleine visionäre Spekulation voran, die in ihrer scheinbar extremen Naivität und Unschuld ein solcher Probierstein des Politischen war. Er schrieb: "Das Blutbad wäre vermeidbar gewesen. Man stelle sich vor: Israels Likud-Chef Ariel Scharon wäre an jenem 28. September auf die Tempelberg-Esplanade spaziert und Hunderte Palästinenser hätten ihn mit einem Ständchen empfangen, ihm die Hand geschüttelt und zum Tee-Umtrunk gebeten. Israel wäre entzückt gewesen über so viel Friedfertigkeit und hätte leichteren Herzens den Palästinensern die Souveränität über 860 Quadratmeter Tempelberg abgetreten. Und Scharon? Sein Kalkül, eine zweite Intifada heraufzubeschwören und somit den eigenen politischen Wert zu steigern, wäre nicht aufgegangen. Leider ist es anders gekommen..."

Der Probierstein-Charakter dieses kleinen Stückchens kreativer politischer Phantasie besteht in unserer Reaktion auf dieses Traumbild - und zwar letztlich ganz unabhängig von diesem konkreten dramatischen Fall.

Das Unmögliche so behandeln als ob es möglich wäre

Seien wir ehrlich: Die meisten Menschen werden über eine solche Utopie lächeln, werden das Szenario als völlig unrealistisch, als absurd, bestenfalls als rührend und in jedem Fall als wirklichkeitsfremd abtun. Und sie haben Recht - weil ihnen Recht gegeben wird von denen, die sich mit Politik, mit politischer Analyse - sei es wissenschaftlich, sei es publizistisch - beschäftigen und Meinungen bilden, die dann zu Urteilen mutieren. Sie alle bewegen sich im breiten Strom des common sense, historisch beglaubigter Regeln, in denen wir die Politik und ihre Konflikte zu verstehen und zu analysieren gelernt haben.

Um beim angesprochenen Fall zu bleiben: Da erscheint es völlig verständlich und legitim, dass sich die von Israel seit Jahrzehnten gedemütigten, ihres Rechtes auf Selbstbestimmung in einem eigenen Staat beraubten Palästinenser gewaltsam zur Wehr setzen und angesichts so vieler von der Besatzungsmacht getöteter Landsleute sogar vor Lynchmord nicht mehr zurückschrecken, war es doch zudem - politisch kalkuliert - erst die Gewalt der Intifada, die Israels Führung überhaupt an den Verhandlungstisch von Oslo gebracht hatte. Aus einer derart historisch legitimierten Logik scheint es aber andererseits ebenso verständlich, dass die israelische Regierung auf diese Ausschreitungen mit militärischen Mitteln reagiert (allenfalls ihre taktische Härte könnte man kritisieren), hätte doch der Staat Israel selbst seine Gründung ohne Verteidigungskrieg nicht überlebt. Niemand, der auch nur etwas von "Realpolitik" versteht, wird das bestreiten können und wollen.

"There is a time for war and there is a time for peace" lauteten die staatsmännischen Worte, die Rabin für seine erste Begegnung mit dem bis dahin erbittert bekämpften, ja verteufelten Arafat gewählt hatte. Aber eben sie enthielten die Saat heutigen Blutvergießens, artikulierten sie doch nichts anderes als traditionellste Politiklogik, indem sie sich genau in den tiefen Gewaltspuren staatlicher Konfliktgeschichte bewegten, auch wenn hier taktisch ein sogenannter "Durchbruch", ein mutiger Schritt nach vorn getan wurde. Dieses eigentlich uralte Wort signalisiert entgegen dem Anschein keinen strategischen Schlussstrich unter eine fatale Vergangenheit zur Eröffnung einer qualitativ neuen Zukunft der politischen Konfliktlösung generell, zu einem wirklichen Paradigmenwechsel, sondern es markiert nur einen geschichtlichen und politischen Moment im Kontinuum der Staaten- und Herrschaftsgeschichte. Denn der bewusste Satz geht unausgesprochen weiter. Er formuliert die unbestrittene Maxime aller politischen Klassen und publizistischen Deutungsmuster von Politik: "There is a time for peace and there is a time for war."

Und so haben sich die beiden Konfliktpartner aus jeweils nachvollziehbarer, jahrelanger Frustration mit dem Friedensprozess nun wieder für "Krieg" entschieden. Abgesehen von kleineren taktischen Fehlern auf beiden Seiten, haben wir dann in letzter Erklärungsinstanz das Wort von der "Tragik" bei der Hand: eine ausweglose Situation von Recht gegen Recht.

Als grundsätzliches Problem des Politischen betrachtet - der Konflikte und ihrer möglichen Lösungen - wird der Fall Israel-Palästina hier nur paradigmatisch zitiert, wenngleich, oder weil er größere Tiefendimensionen hat als andere organisierte Gewalttätigkeiten unserer Zeit: Aber auch an Tschetschenien wäre da zu denken, an den Balkan, die Kurden, Sri Lanka, Ost-Timor, an die meisten konfliktverwüsteten schwarz-afrikanischen Staaten ... - Alle diese Konflikte werden analysiert und beurteilt nach denselben realpolitischen Kriterien, erwachsend aus einem letztlichen Einverständnis mit der Gewalt als ultima ratio, als einem legitimen Mittel von Politik, wozu es nicht nur keine realistischen Alternativen gibt, sondern die angeblich sogar das verborgene Wesen der Politik selbst ausmacht. Das haben wir gelernt, so hat man unsere eigenen Erfahrungen interpretiert, das wird uns täglich aufs Neue als Wahrheit über diese Welt reproduziert. Und darum können wir gar nicht anders als das Szenario vom Begrüßungstee für Scharon auf dem Tempelberg bestenfalls großmütig als einen Kindertraum belächeln, während wir gleichzeitig ehrlich darauf hoffen, Blutvergießen und Gewalt mögen ein Ende haben.

Und doch liegt gerade in jener Traum-Perspektive das Gold des Probiersteins, der uns alle zur Beantwortung der Frage zwingt: Wie ernst ist es der Politik in allen ihren Erscheinungsformen, aus den überall sich drehenden Spiralen der Gewalt tatsächlich qualitative Auswege zu suchen? Wenigstens diejenigen, die zunächst und vor allem kommentierende und engagierte Beobachter sind, müssen Alternativen denkbar machen. Von Goethe stammt die herausfordernde, ja radikale Feststellung: In der Idee leben, heißt das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre. Wer jenes so kühn imaginierte Szenario auf dem Tempelberg lächelnd abtut, der hat schon verloren, der hat die Anstrengung eines spätestens in unserer zeitgeschichtlichen Generation anstehenden radikalen Paradigmenwechsels des Politischen aufgegeben, ehe er sie gemacht hat - und wird damit intellektuell mitverantwortlich für das weitere Blutvergießen und die tödliche Gewaltspirale: wo auch immer sie sich gerade dreht.

Realpolitik weiß immer alles besser, weil sie es nicht besser wissen will

Das Unmögliche so behandeln als ob es möglich wäre: Es gibt immerhin - außer in der Person des stets zu erinnernden Gandhi und dem sehr praktischen Traum Martin Luther Kings von der Überwindung der Rassentrennung ohne Bürgerkrieg ("I had a dream"). Ein großes Beispiel für den realpolitischen Erfolg einer solchen "wirklichkeitsfremden" Haltung: Nelson Mandelas gewaltfreier Sieg über die Apartheid, der alle, aber auch wirklich alle vermeintlich realistisch denkenden Experten lügen strafte, weil ihre und unsere politische Phantasie, unser tradiertes kategoriales Politikverständnis, eine Lösung ohne Gewalt gar nicht vorgesehen oder doch wenigstens denkbar gemacht hatte.

Solange in der öffentlichen Meinung ein realpolitisches Nachdenken über gewaltfreie Strategien - über andere, gewaltfreie Paradigmen der Politik - tabuisiert ist durch Nicht-Ernstnehmen, solange jedes ideale Denken, das eigentlich ein Vor-Denken ist, dadurch diskreditiert wird, dass es in die Ecke des wirklichkeitsfremden Utopischen gestellt wird - solange reproduziert auch die Praxis selbst immer nur wieder die alten zerstörerischen Konfliktlösungsmuster der Realpolitik. Sie weiß immer alles besser, weil sie es nicht besser wissen will und - solange sie im Grundsätzlichen von einer alternativlos zu dieser "Realpolitik" erzogenen öffentlichen Meinung gestützt wird - es auch nicht besser wissen kann. Eine Situation, wie die vom Tee-Empfang für den feindseligen Provokateur sich überhaupt als möglich vorstellen zu können, das ist der Probierstein politischen Denkens, das mehr ist als eine subjektiv ehrlich gemeinte, aber sterile Friedensrhetorik.

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