Intellektuelle haben es mit sich und der Welt nicht leicht: Zwar werden wir für unsere veröffentlichten Meinungen, wenn wir einmal "im Geschäft" sind, gut bezahlt, aber dafür sind wir auch zugleich vergleichsweise leergewichtig, wenn es um das Ohr der Mächtigen geht - denen wir raten, die wir kritisieren, über die wir als selbsternannte Sprecher öffentlichen Bewusstseins urteilen. Die Regel ist: Intellektuelle politische Meinungsbildner sind den Regierenden nützlich, wenn sie deren Entscheidungen dem demokratischen Volk erläutern und sie rechtfertigen; sie werden souverän ignoriert, wenn sie das Gegenteil tun oder auch nur von der Linie abweichen.
Die Regel ist aber auch: Letztlich wissen sie nie ganz genau wovon sie reden beziehungsweise schreiben - sie unterstellen den politisch Handelnden Motive, Begründungen und eine strategische Vernunft, die meist nur Projektionen eigener, idealisch konstruierter Motive, Begründungen und Strategien sind und mit dem beschränkten Horizont und den Bezugsparametern der politischen Protagonisten oft nur wenig zu tun haben. Wann immer mit der im Regelfall 30-jährigen - in den USA seit Bush II inzwischen 50-jährigen - Verspätung die Archive geöffnet werden und wir die Protokolle von Kabinettssitzungen oder vertraulichen Gipfelgesprächen zu lesen bekommen, sind die Historiker schockiert entweder über die vergleichsweise geistige Schlichtheit der vermeintlichen Großen oder deren pragmatischen Zynismus, bar aller hohen Ideale und Prinzipien, wie sie ihnen ihre öffentlichen Meinungs-Manager zugeschrieben hatten. Insofern ist es denen auch letztlich egal, ja sie lachen sich wohl ins Fäustchen, wenn sie hören, was ihnen da draußen an Problembewusstsein und tiefschürfenden ethischen Reflexionen zugetraut wird und worüber sich Intellektuelle den Kopf zerbrechen - wenn es sich zum Beispiel um außenpolitische Krisenentscheidungen handelt.
Im Februar 2002 unterschrieben 60 amerikanische, wie es hieß "führende" Intellektuelle eine von einem "Institute for American Values" initiierte lautstarke Erklärung mit der militanten Überschrift: "Wofür wir kämpfen." Sie erläuterten der Weltöffentlichkeit den angelaufenen "gerechten Krieg" ihrer Regierung und rechtfertigten ihn mit allen Mitteln wissenschaftlicher Rhetorik; dass der sich allerdings nicht mit Afghanistan begnügen würde, hatte die amerikanische Regierung deutlich gemacht - wenigstens das wussten sie. Heute, wo der Krieg schief und aus dem Ruder läuft und zumindest in Umrissen die Konturen seiner ganz und gar unidealistischen Motive deutlich werden, beginnen einige dieser Meinungsmacher kalte Füße zu bekommen und gehen, sofern sie nicht aus Anstand schlicht schweigen, öffentlich auf Distanz.
Einer von ihnen ist der auch hierzulande nicht unbekannte "führende" kommunitaristische Soziologe Amitai Etzioni, der sich nun plötzlich als Kritiker des militärischen Imperialismus der USA zu profilieren sucht. In der Süddeutschen Zeitung (27.Oktober) findet er unter der markigen Überschrift Das kürzeste Empire aller Zeiten scheinbar deutliche Worte: "Jetzt, da das amerikanische Imperium am Zusammenbrechen ist, hat die Stunde derer geschlagen, die für eine Welt mit vielen Kraftzentren eintreten, eine Welt, in der die Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle spielen. Sie mögen nun zeigen, dass sie es besser können - auch wenn in Washington noch niemand bemerkt zu haben scheint, dass die Tage des Imperiums gezählt sind. Die Idee, die Welt mit militärischer Gewalt regieren zu können, ist an ihre Grenzen gestoßen." Es sind scheinbar deutliche Worte - denn wovon distanziert sich jetzt unser führender Intellektueller? Von einer Politik der Nichtmachbarkeit - nicht von einer moralisch, und das heißt politisch zu verurteilenden Strategie seiner Regierung: Weil die Regierung Nordkoreas ihre Atomwaffen in sicheren Höhlen untergebracht hätte, seien die Amerikaner zur Verhandlung gezwungen - nicht, weil verhandeln immer und grundsätzlich die richtige, das Militär die falsche Methode ist; nicht weil es in jeder Hinsicht eine weitere Katastrophe der Arroganz militärischer Macht wäre, den Krieg im Nahen Osten auch noch auf Iran auszuweiten und damit ungezählte Menschen ins Elend und den Tod schicken würde, sondern weil wegen Irak und Afghanistan "an weitere Engagements nicht zu denken ist."
Der kritische Intellektuelle verliert heute kein Wort darüber, dass er noch vor zwei Jahren jene Kriegspolitik mit seiner Unterschrift öffentlichkeitswirksam vor allem für die Welt der Akademiker legitimiert hatte, die nun so offensichtlich in eben die Fehlschläge und Katastrophen führt, die von allen Kriegsgegnern vielstimmig und differenziert vorhergesagt worden waren. Aber er selbst hatte noch mehr getan, indem er sich zusätzlich von jenem "Institut für amerikanische Werte" auf eine (vermutlich nicht schlecht bezahlte) Werbereise durch verschiedene europäische Städte hatte schicken lassen und dabei jegliche bei der Gelegenheit vom Publikum geäußerten Zweifel an der Redlichkeit der Motive der amerikanischen Regierung moralisch disqualifizierte: Man habe offensichtlich die Befreiung Europas vom Faschismus durch die USA vergessen. Es gehört schon ein erstaunliches Maß von Unverfrorenheit dazu, sich nun ohne auch nur einen Anflug von Selbstkritik auf die Seite der Kriegsgegner zu schlagen. Wie glaubwürdig sind Intellektuelle, die uns das zumuten (und bei der Gelegenheit per Fußnote auch noch ihr nächstes Buch ankündigen lassen)? Den Regierenden ist dieses Geräusch auf der Straße bei Abwicklung ihrer Geschäfte ohnehin gleichgültig - so oder so; aber dem weiteren Publikum sollte es das nicht sein. Denn nicht sie, sondern wir, die demokratische Öffentlichkeit, sind hier der Adressat.
Dabei vollzieht dieser im Anspruch kritische Diskurs eines Einzelnen - von dem wir annehmen dürfen, dass er paradigmatisch für das selbstgemachte Dilemma voreiliger nationaler Solidarität steht - eine Schleife, die bei Lichte besehen dann doch wieder ziemlich genau der Regierungsspur folgt. Diese Regierung hat ja inzwischen mehr oder weniger deutlich den Bankrott ihres Alleinganges zugegeben und erwartet von der "Weltgemeinschaft" ökonomische Unterstützung beim Wiederaufbau der eroberten Länder und von den politischen Staatsfreunden militärische Beihilfe zu ihrer Befriedung; sie selbst weiß nicht mehr weiter. Und genauso wendet sich nun die von ihrer einstigen Kriegs-Selbstgerechtigkeit verunsicherte "kritische" Intelligenz in der Person Etzionis an die Adresse vor allem der nicht-amerikanischen Kriegsgegner: Wie sehen denn Eure Vorschläge aus? Habt Ihr etwas Besseres anzubieten? Wer post-imperiale, multipolare Lösungen der Weltprobleme kennt, der trete vor und rede! Aber (und da wird´s wieder fatal) bitte nicht unsere Regierung an ihre Fehler erinnern - so wie wir nicht an unsere Fehler erinnert werden wollen -, denn sonst könnte sie erst recht ihr enormes Gewaltpotential zu Eurem und unser aller Schaden aus Trotz einsetzen. Reizt nicht den gefährlichen Tiger (oder die infantile Seele unserer Führer) - aber reizt auch nicht uns Intellektuelle mit der Wahrheit über unsere Vergangenheit, denn wir sind Eure einzigen Gesprächspartner. O-Ton Etzioni: "Wird die Supermacht jetzt zu ostentativ an ihre Fehlentscheidungen erinnert, könnte sie - mit einem letzten Hurra - nochmals allen beweisen wollen, was sie vermag."
Von Vergangenheitsbewältigung als Bedingung der Möglichkeit von Zukunftsbewältigung, davon versteht man gerade in Deutschland inzwischen Einiges - bei aller Selbstkritik und Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Im Gegensatz dazu leben die amerikanische Gesellschaft und ihre Intellektuellen von der ständig reproduzierten Heiligsprechung der eigenen Geschichte, weshalb sie so leicht zum Opfer der zynischen Manipulation ihres Nationalbewusstseins durch ihre Regierungen werden; die gegenwärtige ist da die schamloseste. Amerikanischer Nationalismus wäre erst dann legitimer Patriotismus, wenn er durch das Feuer einer eigenen, ehrlichen Vergangenheitsbewältigung gegangen ist. Dazu gehört im Kontext des notwendigen europäisch-amerikanischen Dialogs von Intellektuellen auch die kritische Hinterfragung des Mythos von der amerikanischen Befreiung Europas vom Schrecken der nazistischen Herrschaft, diesem Totschlag-Argument gegen die heutige Amerika-Kritik. Diese Befreiung war zwar die rettende historische Folge, nicht aber der strategische Zweck des amerikanischen Kriegseintritts - eine aufschlussreiche Parallelgeschichte zur Behandlung des Saddam-Regimes: Die amerikanische Regierung hatte dem Nazi-Regime ja zu keinem Zeitpunkt ihre Anerkennung entzogen, obwohl sie und die Öffentlichkeit über die Konzentrationslager und die Judenverfolgungen voll informiert waren - ja, die USA waren das einzige demokratische Land, das nach dem Fall Frankreichs sogar noch das Vichy-Regime diplomatisch anerkannte. Erst die deutsche Kriegserklärung (nach Pearl Harbor), nicht aber eine später konstruierte Befreiungsstrategie hat die USA in den Zweiten Weltkrieg gezwungen - und damit dann auch jene eindrucksvolle Propagandamaschine in Bewegung gesetzt, die den bis heute immer wieder von ihr berufenen und die meisten Kritiker einschüchternden Befreiungs-Mythos schuf, der in einer zurecht berühmten Filmserie unter Beteiligung großer Regisseure kulminierte mit dem stolzen Titel: Why we fight.
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