Sind Sie Berlin-Theatermüde? Dann gibt es Abhilfe. Haben Sie lange das Gefühl entbehrt, mit erhobenem Haupt, freudig erregt und zugleich intellektuell gefordert aus einer Vorstellung zu kommen? Dann planen Sie zwei Tage im südthüringischen Meiningen: Unter seinem Herzog Georg II. war es Ende des 19.Jahrhunderts so etwas wie die Theaterhauptstadt Europas. Hier wurde das Regietheater erfunden und revolutionierte auf Tourneen von St.Petersburg bis London, von Stockholm bis Budapest das europäische Theater. Die Engländer ließen sich von den Deutschen zeigen, wie man Shakespeare textgetreu und zugleich spannend in bis dahin unerhörten, ungesehenen Bühnendekorationen zeigen konnte (die Gründung des Shakespeare-Theaters in Stratford-on-Avon geht auf diese Begegnung zurück), Max Reinhardt und Stanislawski sind ohne die Meininger nicht zu denken. Und jetzt ist dieses Theater - in einem wunderschönen klassizistischen Bau von 1908 - wieder da.
Natürlich war es zwischendurch in den letzten 100 Jahren alles andere als tot: Eine soeben erschienene gründlich-schöne Bildmonographie von Alfred Erck erzählt spannend die Geschichte von 1831 bis 2006, ein Mikrokosmos der deutschen Theater- und nicht zuletzt auch Musikgeschichte. Noch 2001 gelang dort Christine Mielitz das kleine, nein das große Wunder, den ganzen Wagnerschen Ring zu stemmen (mit dem danach zu größerem Ruhm aufgestiegenen Kirill Petrenko).
Jetzt scheint Meiningen auch im Schauspiel den Anschluss an die einstige Bedeutung gefunden zu haben. Gewiss, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer - aber diesen Faust, der seit Ende Mai dort (und noch in der kommenden Spielzeit) zu sehen und mit von Akt zu Akt steigender Spannung bis zum Bergschluchtenfinale mitzuerleben ist, diesen vom Premierenpublikum mit langem, stehendem Applaus gefeierten Triumph, den kann dem "Südthüringischen Staatstheater" niemand mehr nehmen.
Beide Teile an zwei aufeinander folgenden Abenden. Natürlich musste gestrichen werden, aber man ist versucht zu sagen: man merkt es kaum, nicht zuletzt weil die Handlung ohne Durchhänger bruchlos fließt und die oft schwer verknüpfbaren Szenen durch innere Logik aneinandergekettet werden. Entscheidenden Anteil daran hat die hochintelligente Dramaturgie (Hans Nadolny und Gerda Binder), unter anderem mit dem genialen Einfall, Goethe selbst auftreten und wiederholt in das Geschehen hilfreich eingreifen zu lassen. In der täuschend ähnlichen Maske des Geheimrats (Ulrich Kunze) eröffnet er mit der Zueignung die gewaltige Weltparabel und beschließt auch mit "Ist gerettet!" den Teil I statt mit der sonst üblichen "Stimme von oben". Und ebenso ist es Goethe, der den aus dem Heilschlaf erwachenden Faust zu Beginn des Zweiten Teils langsam und freundlich-ermutigend aufrichtet (und mit dieser Geste achtzig gestrichene Verse verschmerzen lässt).
Mit derart unaufdringlichen Hinweisen werden wir immer wieder daran erinnert, dass wir einem Spiel, einer Gleichnis-Erzählung "sehr ernster Scherze" zusehen, zuhören, dass Faust zwar Tragödie ist, aber aus dem Geiste höchster, verfremdender Ironie. Von der Rolle des Bilderbuch-Herrn mit weißem Bart stellt sich später heraus, dass Goethe sie gespielt hatte: Die Erscheinung ist nicht das Wesen. Zu den kühnen, aber überzeugenden Eingriffen der Dramaturgie gehört es auch, die Handlung gleich mit dem Studierzimmer beginnen zu lassen, also auf den Prolog im Himmel und das Vorspiel auf dem Theater zunächst zu verzichten. Zu-nächst: Denn das Wettgespräch zwischen dem Herrn und Mephisto wird nachgeholt, eingeschoben zwischen Fausts Suizid-Versuch und die Osterglocken. Mephisto, von Roman Weltzien mit hinreißender Energie als jugendlich-androgyner Antreiber Fausts gespielt, ist dergestalt bereits Teil der Handlung, ehe er als des Pudels Kern leibhaftig wird. Es gehört zu den unaufdringlichen Aktualitätsverweisen der politisch-kritisch inspirierten Regie (Ansgar Haag), das im Trubel des Osterspaziergangs gemachte Bekenntnis Fausts, mit seinem Vater medizinisch unverantwortliche Menschenexperimente mit tödlichem Ausgang gemacht zu haben, unübersehbar zur Sprache zu bringen.
Faust, der rast- und ruhelosen Inkarnation des europäischen Machtmenschen (und Kapitalisten), ist alles und jedes nur Mittel zur Gewinnung von "Herrschaft und Eigentum". "Menschenopfer" markieren seinen Weg als Arzt und Wissenschaftler, als Liebhaber und als unumschränkter Diktator über ein vermeintlich "freies Volk auf freiem Grund". Haag und seinem vorzüglichen Faust-Darsteller (Hans-Joachim Rodewald) gelingt es, diese Linie, diesen roten Faden der inneren Handlung durch alle Irrungen und Wirrungen nie ganz aus dem Auge zu verlieren und derart eindrucksvoll zu bebildern, dass an Goethes zeitkritischer Verurteilung des Protagonisten, dieser Fehlentwicklung der europäischen Moderne, kein Zweifel bleibt.
Einen absoluten theatralischen Höhepunkt und gleichzeitig eine willkommene geistige Atempause vor dem Abstieg in die Katastrophen erreicht der "Meininger Faust" mit der mythologisch so sperrigen, fast unspielbaren Klassischen Walpurgisnacht: Haag verlegt sie, einen Wink Goethes aufgreifend, in den das Theater umgebenden Park - und wenn Homunculus auf dem Wege zu seiner Menschwerdung in einem Kahn der rötlich verdämmernden Abendsonne entgegenfährt, dann möchte man zu diesem magischen Augenblick leise ausrufen: ´Verweile doch, du bist so schön!´ Aber zurück im Theater bricht der Krieg aus, der eindringlich mit Stummfilmmaterial aus dem 1.Weltkrieg unterlegte blutige 4. Akt, dem Faust seine der Kirche verpfändete Lizenz zur Landgewinnung verdankt, und dann der ebenfalls filmisch visualisierte Container-Hafen des Faust´schen Imperiums im 5. Akt, in dessen Zentrum Faust als böser alter Mann im Rollstuhl sitzt und den Befehl gibt, die letzten beiden Menschen der Alten Welt samt der letzten Bäume abzuräumen.
Aber das ist nicht zugleich Goethes letztes Wort über Faust und die Moderne. Radikale Lesarten und ihre Inszenierungen (mit Ausnahme Peter Steins) streichen meist die dem Tod Faustens folgenden "Bergschluchten": Die trotz aller Verbrechen und aller von Faust verursachten Katastrophen mögliche Erlösung seines "Unsterblichen", die Aufhebung des Ich und das Aufgehen der spirituellen Substanz in höhere Formen des Geistigen nach dem physischen Tod. Goethe hat dafür christlich kodierte Figuren ins Spiel gebracht, um durch sie das Unnachahmliche poetisch aussprechen zu können. Haags Inszenierung stellt sich diesem schwierigsten Problem aller Faustinszenierungen, indem er wiederum Goethe selbst auf die Bühne bringt, ihn und Faust die Schlussverse zitieren lässt und ihnen ironisch gebrochen den Weihe- und Bekenntnis-Ton nimmt, ohne die Botschaft selbst zu beschädigen. Im Abgang dann ein Paralipomonon, das noch einmal für uns den Spiel- und Experimentalcharakter der Faust-Parabel betont: Das Stück "es hat wohl Anfang, hat ein Ende. Allein ein Ganzes ist es nicht."
Zu denken, dass die beschränkten Mittel eines kleinen Theaters mit nur neunzehn Darstellern das Unzulängliche zum Ereignis werden lassen, weil alle spürbar von Spielfreude und Leidenschaft beflügelt sind, dass so etwas in einer kleinen Stadt von kaum mehr als zwanzigtausend Menschen möglich ist, das ermutigt und beglückt. Dort ist Kultur, wo eine junge Hotelbedienung sich bei ihren Gästen nach ihren Eindrücken von Faust erkundigt, von dem sie nur einige Proben hat sehen können, die sich aber dann intelligent und scharfsinnig über das Verhältnis Goethes zu Schiller auslässt ("Schiller ist mehr mein Mann"), und wo die Rezeptionsdame ungefragt erklärt, sie werde sich natürlich auch den Faust ansehen, sobald der Andrang etwas nachgelassen habe.
Dieser Bericht wäre unvollständig ohne zu erwähnen, dass eine von Jan Dvorak komponierte im ersten Teil eher elegische, im zweiten überwiegend elektronische bis gerockte Kammermusik diesem Faust eine mehr als nur untermalende Dimension hinzufügt. Und es gibt ein text- und bilderreiches Programmbuch, das jeder Großstadtbühne alle Ehre machen würde - was zur Tradition des Meininger Hauses zu gehören scheint.
Nächste Vorstellungen: 28./29.Juni, und 13./14.Juli. Tel.: 03693-451222
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.