Wenn der Zeiger fällt

Nicht nur verstörend Peter Mussbach inszeniert Pascal Dusapin "Faustus, the last night" in der Berliner Staatsoper als Höllenfahrt

Dass etwas "verstörend" sei, ist inzwischen zu einer der inflationär gebrauchten Sprachformeln der Theaterkritik geworden und sagt unter dem Strich genau das Gegenteil - das Leben und Denken geht so glatt weiter wie bisher. Denn wer lässt sich schon ernsthaft ein auf Theatermacher, Regisseure, Stückeschreiber oder, wie im vorliegenden Fall, auf Komponisten, die uns etwas Radikales zum Nachdenken in der Sprache der Bühne und der Musik zurufen, ja zuschreien? Leichter ist es, ein ästhetisches Fachurteil abzugeben und damit die Sache von sich zu schieben, als sich ihr dort zu stellen, wo sie ernst genommen werden will.

Wer, wie der in Frankreich hoch renommierte Komponist Pascal Dusapin (geboren 1955) eine Faust-Oper für die Uraufführung an der Staatsoper Unter den Linden schreibt, dem darf man bei einem gerade in Deutschland so schwer beladenen Stoff Ernsthaftigkeit und künstlerisch-zeitkritisch motivierte Notwendigkeit unterstellen.

Mit Goethes Faust, den man wenige hundert Meter weiter im Deutschen Theater in "verstörender" Fassung sehen kann, hat der Dusapins so gut wie nichts zu tun. Wenn er sich an einem großen Vorbild orientiert, dann ist es Christopher Marlowes Tragische Geschichte vom Leben und Tod des Doktor Faustus (1564), bei der es neben viel Zeitgeschichtlichem um den doktoralen Teufelpakt "Wissen gegen Seele" geht. Denn darum geht es auch in der Oper Faustus, the last night. Dusapin hat sein Libretto selbst und Marlowes wegen englisch geschrieben, wenngleich es aus einer bunt gemischten Zitatensammlung von der Bibel über Dante bis zu Shakespeare, Melville oder auch Ingmar Bergman kompiliert ist - Goethe erscheint da nur marginal mit Versen aus der Hexenküche.

Die Faust-Frage gilt der für unsere Moderne des technischen Zeitalters emblematischen Figur des Wissenschaftlers, der um jeden Preis - also letztlich um den Preis seiner Seele - wissen will, statt zu glauben: "Wer hat die Welt geschaffen?" Weil er darauf weder von Mephisto noch von dessen Doppelgänger, dem gefallenen Gott/Engel Togod (darin steckt "Gott" und Beckets "Godot") eine Antwort erhält, da letzte Fragen wie die nach dem Tod und dem Nichts sich wissenschaftlichen Erkenntniskategorien entziehen (es ist eine Oper der Dialoge und Dispute, denen man mit Hilfe der eingeblendeten Texte genau folgen muss), lässt sich Faust immer tiefer in den Wahnsinn seiner Allmachtphantasien des Trotzdem treiben. Am Ende hinterlässt er eine zertrümmerte Welt.

Die Höllenfahrt (die "Handlung" setzt mit Fausts Ende ein, wenn sein Schicksal bereits besiegelt ist und nur künstlich durch seine sich ständig wiederholenden, von den Teufeln verlachten Fragen verlängert wird) ist kein spannendes Opernerlebnis, eher ein anstrengendes; sie verlangt dem Publikum intensive Mitarbeit ab. Die letzten Momente aber, in denen "der Zeiger fällt", wie es bei Goethe heißt, die gehören zu den stärksten Momenten derzeitigen Musiktheaters. Dieses Finale erinnert kaum zufällig mit beklemmender Eindringlichkeit an die Endzeitvisionen Becketts - gegenüber dem großen Vorbild bis an die Schmerzgrenze musikalisch noch gesteigert.

Peter Mussbach ist den eher wagnerisch genauen szenischen Anweisungen des Librettisten und Komponisten nicht gefolgt, sondern lässt das geistige Drama auf dem Zifferblatt einer die Bühne ausfüllenden Uhr (Bühnenbild: Elmgreen Dragser) spielen, an deren Riesenzeigern sich die fünf Personen entlang hangeln und die am Schluss selbst zerbrochen liegen- und stehenbleibt. "Was ist Zeit?", zitiert das im übrigen vorbildlich gehaltreiche Programmbuch (Ilka Seifert mit Venezia Fröscher und Magdalena Käpplinger) den Kirchenvater Augustinus und problematisiert die Grundfrage unserer Existenz ganz im Sinne der Fragen von Dusapins Faust weiter mit Hinweisen auf die Quantenphysik und die Hypothese vom Urknall. Zu einer die schließlich zerstörte Welt durch Leerlauf kommentierenden Küchenmaschine am Rande der Bühne, die zuvor wie eine Ikone im Triumph enthüllt worden war, liefert es ebenfalls den Schlüssel mit dem Hinweis auf neue Forschungen der Evolutionspsychologie: Unser Gehirn und unsere Sprache haben Schwierigkeiten im Umgang mit der mechanischen Welt, weil diese dem Menschen letztlich wesens- und lebensfremd ist. Oder, um es mit Goethes Mephisto poetischer zu sagen: "Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten" - auch das Stoff zum verstörenden Nachdenken.

Wenn die Schlussszene szenisch so beklemmend eindrucksvoll gelingt, dann liegt das vor allem an der Musik - die nach einem letzten großen Ausbruch plötzlich dramatisch schweigt, dann langsam das Pfeifen des Shakespeare-Clowns Sly aufnimmt, im final gesprochenen "nothing, nothing" zu einem elektronischen Ton gebündelt wird und schließlich als sprachlich stumme Klage wiederkommt. Um, wie es der Komponist im Gespräch formulierte, die ganze Handlung von hinten zu "verschlingen". Die Musik war zusammen mit dem Text entstanden, aus ihm entwickelt worden und spricht ihre eigene expressive Sprache.

Dusapin verlangt viel von seinen Sängern: nicht nur eine hervorragende Stimmtechnik, sondern auch den Sprechgesang bis hin zum reinem Sprechen - und tatsächlich sind vor allem die drei Baritone des Faustus (Georg Nigl), Mephistopheles (Hanno Müller-Brachmann) und Togod (Jaco Huijpen) außergewöhnlich gut verständlich. Dass sie sowohl stimmlich wie in ihren Kostümen und Masken schwer voneinander unterscheidbar sind, ist Absicht: Faust und die beiden Teufel sind austauschbare Figuren, allesamt in der Wissensfalle gefangen. Caroline Stern (der Engel), die weniger Text, dafür aber um so quälendere Schreie auszustoßen hat, durchdringt mit ihrer klaren Stimme mühelos alle orchestralen Höllengeräusche. Nur Sly (Robert Wörle) wird eine durchgängige Gesangsrolle gegeben. Dieser unvollendeten Randfigur aus Der Widerspenstigen Zähmung gilt die besondere Sympathie des Komponisten und Librettisten: Im Zustand ständiger Trunkenheit lässt er sich von Fausts megalomanem Höllenspektakel treiben und scheint ein glücklicher Mensch, für Dusapin so etwas wie ein Hoffnungsträger zu sein. So wie Mussbach ihn allerdings zeigt, als eine vierschrötige Art Caliban, handelt es sich um eine wenig attraktive Hoffnung. Am Ende zersticht er sie selbst wie eine Seifenblase mit in einer poetisch gelungenen Geste in Gestalt eines weißen Luftballons.

So verlässt man, wenn man sich auf die düstere Analyse und Botschaft dieser apokalyptischen Lesart des europäischen Mythos Faust eingelassen hat, die Staatsoper nicht gerade enthusiastisch. Das Publikum war vermutlich aus vielerlei, teilweise vielleicht aber doch auch aus sehr ernsthaften und nachdenklichen Gründen irgendwie verstört.


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