Alexander Kluge sagte kürzlich sehr schön in einem Interview, "dass die Oper etwas anspricht, nämlich, dass Menschen sich verständigen über die Musik, dass sie dadurch ein anderes Gemeinwesen bilden als dann, wenn sie nur Bücher lesen oder dem Staat gehorchen oder Gerichtsurteile lesen oder Philosophie betreiben." So müsste darum ein Bericht über eine Opernaufführung immer zugleich auch ein Bericht über ästhetisch vermittelte Erfahrungen von Menschen sein, die für - wenn die Oper gelingt - drei oder mehr Stunden privilegiert waren, etwas über sich selbst und die Welt zu lernen, das ihnen kein Gespräch, kein Buch, ja auch keine eigene Empirie vermitteln kann: Ein singender Mensch, eingebettet in ein kunstvoll geschaffenes Gewebe von Klängen, kommuniziert offensichtlich etwas, das sich umgangssprachlicher Rede entzieht. Keine "Botschaften", keine Argumente, keine Lehren, sondern Dimensionen des Psychischen in den Arien, des Gesellschaftlichen in den Chören, in die keine diskursive Anstrengung hineinreicht und die doch vom Hörenden erkannt werden. Prima la musica poi le parole - zuerst die Musik, dann die Worte ist das Motto der Gattung Oper.
Im 19.Jahrhundert, als in Europa nach Traum und Trauma der Französischen Revolution die politische und ökonomische Moderne die Gestalt des Nationalstaates anzunehmen begann, erhielt die Oper zwar nicht zufällig, wohl aber in ihrer enormen Resonanz eigentlich unerwartet einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Diese erstaunliche Karriere verdankte sie vor allem zwei antipodischen Großen: Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Antipodisch, weil hier auch zwei entgegengesetzte "Visionen" hinsichtlich der wünschbaren - oder befürchteten - Gestaltung der Moderne "subkutan", d.h. "unter die Haut gehend" artikuliert wurden.
Wagner, Revolutionär, Anarchist und zwecks Produktion seines Werkes unübertroffener Opportunist schuf vor allem mit dem Ring eine Riesenparabel, in der er das ganze Zeitalter, ja die Geschichte der Menschheit selbst zu erzählen versuchte. Dieser bewusst die Sinne betörenden und jede Distanz zum dramatischen Geschehen rauschhaft im "Gesamtkunstwerk" aufhebenden Musik wird nicht nur die Psychologie und Individualität seiner Figuren untergeordnet, sondern auch deren musikalische Identität: Wagnersänger schwimmen gewissermaßen im großen Strom dieser "vierdimensionalen" Klangwelt mit, werden von ihr getragen und gehen ihrem schicksalhaft vorgezeichneten Ende entgegen. Sie können sich musikalisch nicht wehren.
Insofern ist Wagner heute auch deshalb in der faszinierenden, totalitären Struktur seiner Musik politisch modern, weil er den Geist einer Zeit trifft, die den Einzelnen wieder einer Klasse, Rasse, Ethnie oder anderen Gruppenbestimmungen untergeordnet sehen will - und, wie Jürgen Flimm in Bayreuth mit seiner Ring-Inszenierung gezeigt hatte, er ist nicht zuletzt darum ohne Widersprüche modernistisch spielbar: Die scheinbar unentrinnbaren Gesetze politökonomischer Sachzwänge, die Korruption durch Macht, die tödliche, weil liebesvernichtende Logik des Kapitals waren hier voraus- und unerbittlich zu Ende gedacht worden - Götterdämmerung, Weltuntergang der so siegesgewiss ihre Walhalla-Betonglaspaläste für die Ewigkeit bauenden Technologiegesellschaft. Wagners Musik verlangt eine über das Musikalische weit hinausgehende, im ideologisch Unbestimmten belassene und doch ausgerichtete unbedingte Gefolgschaft.
Ganz anders nun Verdi in Italien: Auch er leidenschaftlich politisch engagiert - für das Risorgimento, die Wiedergeburt Italiens als selbstbestimmter und selbstbewusster Nation, aber einer Wiedergeburt "von unten", aus dem Volke selbst: Was schon die frühen Opern so eindringlich und bis heute geradezu elektrisierend macht, das sind darum die Chöre, die von Leiden und Hoffnung singen - allen voran natürlich das berühmte Va pensiero aus der jüdischen Versklavungsgeschichte Nabucco, das heute so etwas wie die zweite, die "eigentliche" italienische Nationalhymne ist. Und dann sind es später die großen, oft tragisch endenden Individuen - ihr größter zweifellos Otello - in denen Verdi seinen Appell an den Menschen als zum aufrechten Gang und zur eigenen Verantwortung für sein Tun und Urteil befähigt, musikalisch gestaltet. Otello ist das Opfer großer, überlebensgroßer Liebesleidenschaft und die Katastrophe ist sein und nur sein Verschulden - nicht aber zugleich, wie bei Shakespeare, das einer den Außenseiter-Mohren ausgrenzenden, fremdenfeindlichen Gesellschaft; die Musik lässt daran keine Zweifel.
Verdis Menschen singen sich selbst, paradox formuliert, gewissermaßen "gegen die Oper" frei, sie werden musikalisch immer als selbstverantwortlich gezeigt und nicht etwa in "Leitmotiven" festgelegt - darum können auch die großen Verdi-Arien zu Bravourstücken im Repertoire solistisch auftretender Diven und Sänger werden (was für Wagners "Arien" - schon der Begriff ist hier kaum angebracht - ganz unmöglich ist). Verdis Opern waren in ihrer Zeit auch Appelle der Ermutigung und der Hoffnungen auf eine demokratisch-republikanisch erneuerte politische Ordnung freier und emanzipierter Menschen; Verdis Opern heute sind leidenschaftliche Erinnerungen an diese nicht eingelösten, aber damit keineswegs historisch überholten Hoffnungen und Erwartungen. Insofern sind sie "nicht zeitgemäß", ist das große Pathos, das sie beseelt, mit jeder geglückten Aufführung ein erneuerter Stachel im Fleische einer Gesellschaft, die ihre Modernität in ihrer wissenschaftlich-technologischen Rationalität, im kühlen Kalkül des Profits, in der computergestützten Sachlichkeit, gegebenenfalls auch in High-Tech-Kriegen sieht, die ohne Helden und persönliche Tapferkeit auskommen, kurz: einer Gesellschaft, die von großen Leidenschaften nichts mehr wissen will.
Nirgends verdinglicht sich diese leidenschaftslose, nüchtern-funktionalistische Moderne so unübersehbar dominant und arrogant wie in der Dienstleistungsarchitektur - und an wenigen Orten so rein und gegenüber jeder Tradition so rücksichtslos wie am Potsdamer Platz in Berlin. Eben dessen Architektur aber haben sich Jürgen Flimm und sein Bühnenbildner George Tsypin als Schauplatz ihrer Otello-Inszenierung gewählt, die im Rahmen der Verdi-Feiern zum 100.Todestag an der Staatsoper Unter den Linden im Januar Premiere hatte. Weil Verdis Credo ein Aufschrei, ein leidenschaftliches Ansingen gegen die Kälte und Gefühllosigkeit der sich damals machtvoll formierenden Moderne ist, wird das hier Bühnenbild zu einer tödlichen Zwangsjacke für alle Beteiligten: die Sänger-Protagonisten so gut wie die unter Barenboim wunderbar musizierende Staatskapelle - symptomatisch für eine Inszenierung, in der im Einzelnen nichts, aber auch gar nichts stimmt, so dass man sie geradezu als Negativmodell für inszenatorische Oberflächlichkeit und Textignoranz vorführen möchte, von ihren geradezu haarsträubenden politischen Peinlichkeiten ganz abgesehen.
Die fundamentale konzeptionelle Fehlentscheidung des Otello, wie sie sich in diesem Bühnenbild einer Welt von Business-Managern auf der Direktionsetage verdinglicht, dürfte zurückgehen auf Flimms unmittelbar vorangegangene Ring-Regie in Bayreuth: Wagner darf, will und muss auch als kritische Parabel eben der industriekapitalistischen Moderne einschließlich ihrer Politik gelesen, verstanden und visualisiert werden - nicht aber Verdi.
Die Glaspalast-Architektur mit zentraler Wendeltreppe und mehrgeschossigen Balkongängen erlaubt es dem Regisseur, die innere Leere seiner Konzeption zu überspielen, indem er seine Figuren ständig umherlaufen lässt - im Kreise, treppauf, treppab, quer durch den Swimmingpool oder um ihn herum - eine Dynamik suggerieren wollende Mobilität, die die Menschen Verdis, indem sie ständig in Bewegung und damit voneinander getrennt sind, zutiefst verwundet, weil er ihnen ihre Seele, nämlich leidenschaftlich in Hass und Liebe, Eifersucht und Verehrung miteinander verbunden zu sein, raubt. Gerade indem sie sich gewissermaßen "architekturgerecht" bewegen, wird gegen die Intention der Konzeption deutlich, dass es eben diese Moderne ist, die für Verdi tödlich ist, dass Verdi mit dieser Welt der Manager und Bankiers inkompatibel ist (Iago hat äußerlich eine solche Gestalt) und die von ihm berufene, besungene, musikalische beschworene Menschlichkeit hier nicht gedeihen kann. Generaldirektoren in den Chefetagen haben Affären mit ihren Sekretärinnen aber keine leidenschaftliche Liebesbeziehungen zu ihren Frauen, und frustrierte Manager werden unliebsame Kollegen durch Mobbing los, aber nicht durch den existenziellen Hass eines Iago. Selbst die Musik aus dem Orchestergraben wird verschluckt von oder prallt ab an der Seelenlosigkeit dieses Bühnen-"Sony-Centers".
Es ist anscheinend schwer geworden, Oper heute - und insbesondere Verdi - so zu inszenieren, dass der Eigensinn und die herausfordernde Widerständigkeit der Musiksprache visualisiert lebendig werden können. Vielleicht sollten sich große Künstler wie Daniel Barenboim, der schließlich die "künstlerische Leitung" seines Hauses hat, mit konzertanten Aufführungen begnügen. Weniger wäre dann vielleicht nicht nur mehr, sondern auch der unverzichtbaren Wahrheit des Musiktheaters näher.
Ausführlicher zu Verdi/Wagner: Ekkehart Krippendorff, Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart; Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999
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